Als Mensch, war ich gerührt. Emotional stellenweise überfordert. Doch in erster Linie war ich glücklich, diesen wundervollen Film nur durch Zufall, an einem Sonntagnachmittag auf einem Kanal, ganz hinten auf meiner Fernbedienung, gesehen zu haben. Ein echtes Geschenk also. Mit dem nicht zu rechnen war.
Jetzt mal ganz ehrlich: Hätte ich nur die kurze Inhaltsangabe in meinem TV-Browser gelesen, hätte ich wohl nicht eingeschaltet. Wusste ich doch vorher auch gar nichts von diesem, schon 12 Jahre alten polnischem Film, der sicher irgendwo im Kino und bestimmt auch dem einen oder anderen TV-Kanal schon mal gelaufen ist.
Die ersten Minuten habe ich verpasst (Danke, Mediathek!). Also habe ich zunächst auch nicht gesehen, wie eine der Empathie völlig unfähige Ärztin, der Mutter eines offensichtlich „schwerbehinderten“ Jungen mitteilt: „Ihr Sohn ist Gemüse.“
Dass dieser Junge im Film als Off-Kommentar seine eigene Stimme bekommen hat, war nicht nur der Beweis des Gegenteils jener absurden Aussage, sondern auch ein dramatischer Geniestreich des Filmemachers, Maciej Pieprzyca.
Pieprzyca schrieb das Buch für den Film nach der wahren Geschichte von Mateusz Rosiński, eines Mannes, der mit infantiler Zerebralparese, also einer schweren Hirnschädigung geboren wurde. Wir sehen also die Lebensgeschichte eines Menschen mit einer medizinischen Diagnose… und diese Diagnose wurde erstellt von Menschen, die nicht in der Lage waren, zu erfassen, was für ein Mensch Mateusz eigentlich ist. Da darf ich schon die Frage stellen, wer denn da eigentlich „behindert“ ist, der Mensch, oder das System, das nicht in der Lage ist, diesen Fehler zu erkennen?
Das ist, vom Thema, nicht einfach. Nicht für das große Publikum, das sich, sollte es sich bei den Protagonist:innen nicht zufällig um Genies der einen oder anderen Art handeln, eigentlich eher selten für Filme über Menschen mit Behinderungen interessiert. Und schon gar nicht einfach ist es für Filmemacher:innen. Pieprzyca hat hier also einen besonderen Film in einem sehr speziellen Genre gemacht.
Die Geschichte von Mateusz ist zunächst mal eine, die andere erzählen. Die Mutter, der Vater, Geschwister, Ärzt:innen, Nachbar:innen. Sie sind ihm alle sehr unterschiedlich und manche gar nicht wohl gesonnen. Er wird eigentlich erst dann vom Objekt zum Subjekt, als der Film ihn selber sprechen lässt und wir an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben können. Was für ein Glück, für uns!
Seine große Tragödie ist, dass er sich mit der Welt verständigen will und den Leuten zuschreien möchte: Ich bin kein Gemüse. Ich bin ein normaler Mensch, behandelt mich wie einen Menschen. Seht in mir nicht immer nur den Behinderten, schaut auf meine inneren Werte. Ich finde, das ist etwas ganz Universelles. Von der Idee her ist das ja ein Film über Kommunikationsprobleme, wie wichtig Kommunikation für uns ist und für das Verständnis eines anderen Menschen. Ich glaube, Kommunikationsprobleme haben nicht nur Menschen mit Behinderung.
Regisseur Maciej Pieprzyca im Gespräch mit dem DLF, 07.04.2015
Ganz ehrlich, das erste Mal, dass ich wirklich lachen musste, hat mich diesen Mateusz lieben lassen, instantly, auf der Stelle. Ich verrate nicht wann, doch gerne, dass es sich während des Films noch einige Male wiederholt hat. Und das auch in enorm dramatischen, ja schicksalhaften Situationen, an denen rein gar nichts übertrieben schien, so normal, folgerichtig und um so mehr eigentlich tragisch waren diese.
Ja, geweint habe ich auch, ein wenig nur, niemand hat es gesehen. Wütend war ich. Und glücklich. Denn als Mateusz endlich, nach Jahrzehnten eingeschlossen in seinem Körper, auf eine Frau treffen sollte, die ihm tatsächlich zuhören und eine Stimme geben konnte, war das der dramatische Höhepunkt einer „Erlösungsgeschichte“, die sich angefühlt hat, als würde sie wirklich zu meinem Leben gehören.
Die Legende von „Forrest Gump“ (1994) wurde zum Kino-Mythos. Es war ja auch wirklich eine epische Erzählung und ein Meisterwerk von Robert Zemeckis. Heute ist der Film fester Bestandteil der Popkultur. Pieprzyca allerdings musste seine Geschichte mit viel, viel weniger Mitteln aber um so größerem Einsatz erzählen. Und der Schlüssel dazu waren weder Filmtricks aus dem Computer, großartige Bildkompositionen, noch ein Soundtrack aus den Top-40. Er hat seinen Film allein mit einer sehr intimen Kulisse, einer Kamera, ganz nah an den Menschen, und vor allem anderen, unglaublich großartigen Darsteller:innen realisiert.
Dawid Ogrodnik und der noch sehr junge Kamil Tkacz haben dem Mateusz nicht nur ihr Gesicht, sondern ihre ganzen Körper geliehen, in einer Weise, die mich keine Sekunde lang daran zweifeln ließ, dass dieser Junge und spätere Mann, den ich da sehe, etwa kein behinderter Mensch sei. Superstars sind diese beiden! Bitte erklären Sie mir, warum sie nicht inzwischen weltberühmt sind?
Die Geschichte zu glauben, hat aber auch die Tatsache ermöglicht, dass alle anderen Rollen von ganz unterschiedlich behinderten Menschen mit Darsteller:innen besetzt wurden, die sich selber spielen, also eine Rolle professionell mit Leben füllen und damit dem Film eine Authentizität ermöglichen, die wir sonst höchstens aus Dokumentarfilmen kennen. Und, ja, wenn Sie das befremdet, weil sie das nicht gewohnt sind, dann müssen Sie das einfach lernen. Denn nur, weil wir diese Menschen in unserem Alltag meistens nicht sehen, sind die ja nicht weg. Sie sind nur woanders.
„Es ist toll, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Sie sind weniger neurotisch als die meisten Schauspieler.“
Maciej Pieprzyca im Gespräch mit Ronald Ehlert-Klein, kinofenster.de
Und sie sind nicht „anders“, weil sie „wir“ sind. Wir sind „alle“. Denn wir alle leben, haben Bedürfnisse, wir lieben, tun und erleben Dinge, die für jede:n von uns unterschiedlich schön oder unterschiedlich schwierig sein mögen. Einige von uns mögen „Möpse“. Aber das geht auch wieder weg, wenn andere Dinge wichtig werden. Am Ende lieben die meisten von uns eine gute Geschichte. Und wenn wir sie nicht selbst erzählen können, dann lieben wir jene, die eine Stimme haben, sie uns zu erzählen, dafür um so mehr.
Der Film ist auch ein echter Meilenstein, für uns, die wir mehr Inklusion in Film und Fernsehen fordern. Und dass Menschen nicht als „Quoten-Behinderte“ gebucht und besetzt werden, sondern eigene Geschichten bekommen, die eigentlich unsere sein sollten.
Geschichten wie die von Mateusz Rosiński.
Bitte schalten Sie unter gar keinen Umständen vor dem Nachspann ab!
Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.01.2025.
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Drama, Polen, 2013, FSK: ab 6, Regie & Drehbuch: Maciej Pieprzyca, Produktion: Wiesław Łysakowski, Musik: Bartosz Chajdecki, Kamera: Paweł Dyllus, Schnitt: Krzysztof Szpetmański, Mit: Dawid Ogrodnik, Kamil Tkacz, Dorota Kolak, Arkadiusz Jakubik, Anna Nehrebecka, Katarzyna Zawadzka, Helena Sujecka, Mikołaj Roznerski, Tymoteusz Marciniak, Anna Karczmarczyk, Fediverse: @filmeundserien,
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