Wetten, dass Sie Toledano/Nakache kennen? Vielleicht haben Sie sich die Namen nicht gemerkt, doch ihren Blockbuster „Ziemlich beste Freunde“ (2011) haben Sie sicher gesehen. Oft wiederholt und inzwischen wohl so etwas wie ein „Klassiker“ der Tragikomödien. Schon seit 2005 arbeiten die beiden Franzosen gemeinsam an ihrem ganz großen Thema: Menschen, die wir sonst nicht sehen (wollen?) in das Zentrum ihrer Geschichten zu stellen.
Ich liebe die Filme von Toledano/Nakache sehr. Dafür nehme ich sogar Gérard Depardieu in Kauf, der in ihrem ersten Film „Zwei ungleiche Freunde“ (2005) einmal mehr einen depressiven Mann gespielt hat, der über seine psychischen Ausnahmezustände allerlei komische Verwicklungen auslöst. Im Grunde eine klassische französische Komödie, die aber so erfolgreich war, dass den Regisseuren daraus nicht nur ökonomischer Erfolg beschieden war, sondern auch künstlerische Freiheit. Und die haben sie genutzt.
Denn der schon erwähnte Blockbuster „Ziemlich beste Freunde“ (2011) knüpfte zwar durchaus an das Komödien-Muster an, hat sich aber dadurch, einen vollständig querschnittsgelähmten Mann in das Zentrum seiner Geschichte zu stellen, etwas getraut, an das wir noch nicht gewohnt waren. François Cluzet und Omar Sy wurden zu Superstars und die Regisseure zu einigermaßen reichen Männern. (Die Wikipedia berichtet von einem Einspielergebnis von 426 Millionen USD.)
Mit „Heute bin ich Samba“ (2015) ist ein Film gefolgt, der, wieder mit Omar Sy, als Drama um die Abschiebung eines „Sans Papiers“ ungleich näher an der sozialen Wirklichkeit, ungleich dramatischer, doch eben auch herzenskomisch, mir eigentlich sogar mehr gegeben hat, als sein Vorgängerfilm. Das lag sicher auch an Charlotte Gainsbourg, von der ich mich bemühe, ohnehin einfach alles zu sehen.
„Alles außer gewöhnlich“ (2019) kam dann eigentlich als Sozialdrama daher. Das lag zuvorderst an der „wahren Geschichte“ eines jüdischen und eines muslimischen Sozialarbeiters in den Vororten von Paris. Beide sind eigentlich keine ausgebildeten Betreuer schwer autistischer Kinder und Jugendlicher, doch sie kümmern sich eben um eben genau diese, weil es sonst keine:r macht.
SZ: Erzählen Sie doch zum Einstieg gleich mal von den beiden Männern, denen Sie mit diesem Film ein Denkmal setzen.
Éric Toledano im Interview mit Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung, 04.12.2019
Éric Toledano: Das sind Stéphane Benhamou und Daoud Tatou, wir kennen die beiden seit zwanzig Jahren. Sie entsprechen, wie unser französischer Titel sagt, wirklich keiner Norm. Das sind Helden! Zwar ohne Superkräfte wie bei den Amerikanern, aber die Welt wollen sie trotzdem retten. Beide waren schon damals wild entschlossen, sich um schwer autistische Kinder und Jugendliche zu kümmern, um Patienten, die alle anderen Einrichtungen abgelehnt hatten. Das war wirklich ein täglicher Kampf, Stéphane hatte viele Jahre lang nicht einmal eine offizielle Genehmigung, er arbeitete im rechtsfreien Raum und ging gewaltige Risiken ein. Und weil es praktisch unmöglich war, Pfleger für diese schweren Fälle zu finden, heuerten sie junge Menschen aus den Pariser Brennpunktvierteln an, die im Leben sonst keine Chance hatten. Auf dem Papier klingt das wie eine totale Katastrophe, aber es funktionierte, diese jungen Menschen lernten, sich gegenseitig zu helfen. Und auf einmal war es wie Mathematik – minus mal minus ergab plötzlich plus.
Der Humor in diesem ganz besonderen Film, liegt nicht in der Komik von „verfilmten Witzen“, sondern in der Beobachtung des ganz normalen Slapsticks des Alltags. Es ist kein Film „über“ Menschen mit Behinderungen, sondern ein Film „mit“ Menschen mit Behinderungen. Alle außergewöhnlich eben. Mal mehr, mal weniger Meister:innen in der ganz und gar nicht einfachen Kunst, das Leben halbwegs mit intakter Würde zu bewältigen. Ein großartiges Beispiel dafür, wie das echte Leben die besten Geschichten schreibt.
Vincent Cassel ist sowieso einer, der es bei mir ganz leicht hat. Ich bewundere den Mann für seine chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit. In Frankreich ist er lange schon ein Superstar. Deshalb lebt er in Brasilien. In diesem Film allerdings, spielt er den Typen, mit grauem Vollbart, an dem Sie gerade auf der Straße vorbeigegangen sind. Einen durch und durch geerdeten Menschen, der den Sinn seines Lebens darin gefunden hat, anderen zu helfen.
Reda Kateb spielt seinen Partner. Auch er, eigentlich alles andere als ein Komödiant. Auch er, ein mehrfach für den César nominierter Star in Frankreich (einmal hat er ihn gewonnen). Aber ganz ehrlich, merken wollen wir das eigentlich nicht, wenn wir Cassel und ihn hier sehen. Ich glaube diesen überragenden Darstellern ihre Figuren einfach.
Denn eigentlich könnte dieser Film ja ebenso ein Dokumentarfilm über Bruno, Malik und ihre Schützlinge sein. Die Geschichte ist echt, die Menschen sind echt, und die Inszenierung ist vollkommen unprätentiös. Keine Spur von dramatischem Szenenbild, keine Stunts. Ein Kleinbus in der Pariser Rushhour. Eine rotierende Waschmaschinentrommel. Viel spektakulärer wird es nicht. Wären da nicht die Menschen.
Die tollen Laiendarsteller:innen tragen hier die Geschichte. Sie „spielen“ sich selbst. Und wir können nicht unterscheiden, wer von ihnen und wie sehr etwa an einer Behinderung leidet oder etwa nicht. Inklusion ist eigentlich erst dann vollzogen, wenn keine Unterschiede durch Behinderungen mehr gegeben sind. Hier funktioniert der Film, auch als Projekt, einfach grandios gut!
Die Botschaft ist klar: Es sind nicht die Menschen, die wir sehen – wenn wir sie überhaupt sehen – die „behindert“ sind. Sie „werden“ behindert! Durch uns. Uns alle. Unsere Umwelt, unsere sozialen Mechanismen, die Organisation unseres Alltags, bis hin zu unseren Regeln und Gesetzen sind es, „wir“ sind es, die Menschen behindern.
Für mich ist es tatsächlich der beste und, bei weitem stärkste und auch schönste Film von Toledano/Nakache. Er hat im Kino – kaum überraschend – weitaus weniger Menschen erreicht, als jede andere ihrer gemeinsamen Produktionen. Dabei hätte er so viel mehr verdient. Denn es ist auch ihr weitaus wichtigster Film. Inspirierend, warmherzig, absurd und komisch ist er sowieso, manchmal, wie zum Ende, fast poetisch und schön. Eben außergewöhnlich. Wie das wahre Leben.
Wir brauchen unbedingt mehr Brunos und Maliks.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 14.04.2025. Permalink: https://nexxtpress.de/b/d48
Hinweis: Ebenfalls online verfügbar: „In Therapie“ (2020) – die erste TV-Serie von Toledano und Nakache über das Trauma der Terroranschläge in Paris 2015. Kein leichter Stoff, aber mit einem großartigen All-Star-Cast. (ARTE – Bis 19.09.2025)
Sozialkomödie, Frankreich, 2019, FSK: ab 6, Regie: Éric Toledano, Olivier Nakache, Drehbuch: Éric Toledano, Olivier Nakache, Produktion: Nicolas Duval Adassovsky, Musik: Grandbrothers, Kamera: Antoine Sanier, Schnitt: Dorian Rigal-Ansous, Mit: Vincent Cassel, Reda Kateb, Hélène Vincent, Bryan Mialoundama, Alban Ivanov, Benjamin Lesieur, Marco Locatelli, Fediverse: @3sat, @filmeundserien
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