Albert Serra – „Pacifiction“ (2022)

Dieser Film hat mich auf eine Weise gefesselt, die ich so auch nur selten erlebe. Die exotische Kulisse Tahitis mit traumhaften Stränden, der üppigen Vegetation und dem tiefblauen Pazifik übt eine fast hypnotische Anziehungskraft aus – ein Bild, das wir als europäische Zuschauer:innen gelegentlich mit einer romantischen Vorstellung von Unberührtheit und Paradies verbinden. Und dann wurde dieser Traum zertrümmert…



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Albert Serra hat mich mit „Pacifiction“ (2022) tief bewegt – und beunruhigt. Er zeigt eine Welt, die auf den ersten Blick paradiesisch wirkt, aber von einer politischen Realität durchzogen ist, die ich kaum zu greifen wusste: postkoloniale Machtverhältnisse, das beharrliche Schweigen über die verheerenden französischen Atomtests und eine subtile, doch fortdauernde Ausbeutung, die sich bis in unsere Gegenwart zieht. Mich hat dieser Kontrast elektrisiert – weil er nicht laut schreit, sondern schleichend offenlegt, wie sehr Politik, Geschichte und unsere Wahrnehmung miteinander verflochten sind. Und wie wenig wir eigentlich wissen, über diese Region, über die wir doch so viele Bilder im Kopf haben – fast alle falsch.

Was Serra erzählt, ist weit mehr als eine Geschichte. Es ist ein Zustand. Eine Atmosphäre. Etwas, das man spürt, bevor man es versteht – wenn überhaupt. Die Langsamkeit des Films, seine ausufernden Einstellungen, die improvisierten, manchmal beinahe unbeholfen wirkenden Dialoge: All das fordert mich heraus. Als Zuschauer werde ich nicht bedient, sondern herausgefordert, mich einzulassen. Geduld ist hier kein Mittel zum Zweck – sie ist Teil des Films. Und wenn ich mich darauf einlasse, entfaltet sich eine Sogwirkung, die sich nicht über Handlung, sondern über Stimmung und Bildsprache vermittelt.

Serra führt uns in ein Machtgefüge, das nicht abgeschlossen ist, sondern bis heute wirkt. Die französische Regierung hat die Verantwortung für die Atomtests auf Tahiti und den umliegenden Inseln bis heute nicht vollständig anerkannt. Dieses Leugnen, dieses Schweigen – es durchzieht den Film wie ein Phantomschmerz.

„Die Vorstellungen von Atomtests oder U-Booten vor der Küste werden im Film als lächerlich gezeigt und verfolgen doch alle, selbst das französische Militär. Die Paranoia wird zum Zustand der Welt, der über uns hereinbricht wie jene Riesenwelle und uns in den Kinosessel drückt, erschrocken und glücklich zugleich, so etwas in dieser Form noch nie gesehen zu haben.“

„Sonne, Süden, Sündenfall“, Bernd Rebhandl, FAZ, 02.02.2023

Diese „Paranoia“, dieses unterschwellige Bedrohungsgefühl, sickert in jede Szene. Die Folgen der Tests – gesundheitliche Katastrophen, ökologische Zerstörung, kulturelle Traumata – sind Teil einer verdrängten europäischen Geschichte, die sich bis heute nicht wirklich eingestanden wurde. Und genau das zeigt Serra – ohne moralischen Zeigefinger, ohne Anklage. Stattdessen legt er Schicht für Schicht frei, wie tief die Verstrickungen reichen und wie schwer sich dieses koloniale Erbe abschütteln lässt.

Was besonders beeindruckt, ist Serras radikale Art zu arbeiten. Kein klassisches Drehbuch. Die Dialoge improvisiert. Hauptdarsteller Benoît Magimel bekam seine Texte während der Dreharbeiten über einen Knopf im Ohr. So entsteht eine beunruhigende Unmittelbarkeit – eine dokumentarisch wirkende Nähe, die uns zwingt, in die Wahrnehmung der Hauptfigur einzutauchen. Ich hatte das Gefühl, mehr zu erleben als nur einen Film – eher eine Wahrnehmungserfahrung, die sich wie Nebel um mich legte.

Fünfhundert Stunden Filmmaterial sollen gedreht worden sein – ein Beleg für Serras kompromisslosen Umgang mit Zeit und Struktur. Diese Konsequenz ist spürbar. Und sie macht den Film so einzigartig.

Die Bildsprache ist hypnotisch – man könnte sagen, traumartig. Auch ich musste an David Lynch denken: diese langsame, fast surreale Erzählweise, in der Realität und Fantasie ineinanderfließen. Besonders das Finale ist atemberaubend: Die tropische Nacht legt sich wie ein Schleier über die Insel, alles versinkt in Dunkelheit, in Ungewissheit – und plötzlich kippt die Schönheit ins Apokalyptische.

„Daraus entsteht eine Phantasmagorie, in der der Exotismus mit seinen Farben ebenso wie die postkoloniale Thematik nichts als eine Pazifik-‚Fiktion‘ ist. Die Dinge, die wir auf der Leinwand sehen, kommen uns vor, als würden wir sie ebenso halluzinieren, wie die Figuren es tun. Als würde der Katalane Serra der ‚paranoisch-kritischen‘ Methode seines Landsmanns Salvador Dalí folgen, eintauchen in eine delirierende Interpretation der Realität.“

„Halluzination in der Südsee“, Philipp Stadelmaier, Süddeutsche, 20.02.2023

Was mich so berührt hat: „Pacifiction“ ist weder voyeuristisch noch exotisierend. Und das, obwohl er in einem Setting spielt, das kaum „exotischer“ sein könnte – zumindest in unseren westlichen Vorstellungen. Serra zerlegt diesen Blick. Er hält uns einen Spiegel vor und zeigt, wie stark unsere Sicht auf den (Süd-)Pazifik immer noch kolonial geprägt ist. Die Klischees sind bequem, aber falsch. Und Serra zwingt uns, sie zu hinterfragen. Dabei steht die Frage nach Gerechtigkeit – gerade im Hinblick auf die Atomtests – nicht nur als historische Mahnung im Raum, sondern als aktuelle, politische Herausforderung.

Ich frage mich oft, warum ein Künstler wie Serra in Deutschland nicht viel mehr Beachtung findet. Er ist kompromisslos, ästhetisch radikal, und vor allem politisch – in einer Kunstwelt, die sich allzu oft ins Private oder Unverbindliche zurückzieht. Dabei brauchen wir genau solche Stimmen.

Manchmal spiele ich ein Gedankenexperiment: Wie hätte „Pacifiction“ ausgesehen, wenn ihn ein:e anderer Regisseur:in gemacht hätte? Werner Herzog hätte wahrscheinlich den existenziellen Überlebenskampf betont, die Natur als metaphysischen Gegner inszeniert. Wim Wenders hätte sich mehr auf das Melancholische konzentriert – Identität, Erinnerung, vielleicht auch Hoffnung. Doch Serra bleibt unversöhnlich. Er will nicht versöhnen. Und gerade deshalb trifft der Film so tief.

Die Rezeption auf internationalen Festivals war entsprechend stark. Weltpremiere in Cannes 2022, Nominierung für die Goldene Palme. Der Louis-Delluc-Preis, mehrere Lumières-Auszeichnungen – darunter beste Regie und beste Kamera. Neun César-Nominierungen, Preise für Magimel und Artur Tort. Und Platz eins der Cahiers du cinéma Jahresliste 2022.

Ich vermute – und hoffe – dass diese Ehrungen nicht nur dem künstlerischen Rang des Films galten, sondern auch seinem politischen Gewicht. Denn „Pacifiction“ ist mehr als ein Film. Er ist ein Statement. Und eine Zumutung – im besten Sinne.

Für mich war es eine Erfahrung, die nachwirkt. Die Fragen stellt. Die meinen Blick geschärft hat. Auf eine Welt, die wir viel zu lange nur durch fremde, manipulierte Linsen gesehen haben. Ein Film, der zeigt, wie Kino alles sein kann – schön, politisch, herausfordernd. Wenn es sich nur traut.

Grandios.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 24.05.2025.



Drama, Frankreich, 2022, FSK: ab 6, Regie: Albert Serra, Drehbuch: Baptiste Pinteaux, Albert Serra, Produktion: Pierre-Olivier Bardet, Albert Serra, Montse Triola, Musik: Marc Verdaguer, Kamera: Artur Tort, Schnitt: Artur Tort, Ariadna Ribas, Albert Serra, Mit: Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini, Matahi Pambrun, Alexandre Melo, Montse Triola, Michael Vautor, Cécile Guilbert, Attia Lluís Serrat, Mike Landscape, Cyrus Arai, Mareva Wong, Baptiste Pinteaux, Sergi López, Eva Bourgeois, Laurent Brissonnaud, Fediverse: @filmeundserien



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