Schon der Titel legt den Grundton fest: Es geht um Wut, Ungerechtigkeit und die andauernde soziale Zerrüttung im Herzen Frankreichs. Regisseur Ladj Ly, selbst aus den Pariser Vororten, verleiht dem Stoff von Victor Hugos „Die Elenden“ ein zeitgemäßes Gewand – ohne jedes Pathos, aber mit schonungslosem Blick.
Die Bühne für Lys ist der Pariser Banlieue-Vorort Montfermeil, der Schauplatz von Victor Hugos Roman. Statt der historischen Revolution sehen wir hier das moderne Frankreich: soziale Verwerfungen, ethnische Spannungen und eine von Misstrauen geprägte Beziehung zwischen Polizei und Jugend. Ly montiert diese Elemente zu einem beklemmenden Mikrokosmos, der so realistisch wie wütend ist.
Der Film folgt dem frisch versetzten Polizisten Stéphane (Damien Bonnard), der sich dem Alltag in Montfermeil stellen muss. Seine Kollegen, Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djebril Zonga), sind routinierte „Banlieue-Bullen“, die mit Härte und Zynismus reagieren. Als ein Übergriff gefilmt wird, eskaliert die Lage.
Ly lässt keinen Zweifel daran: Die Banlieues sind ein soziales Pulverfass, das Frankreich jahrzehntelang ignoriert hat. Doch er liefert keine einfachen Antworten oder moralischen Erlösungen. „Die Wütenden“ ist ein Film, der genau hinschaut – und genau dadurch schockiert. Ly zeigt, wie schnell Gewalt zur gegenseitigen Spirale wird: Cops, die ihre Macht ausspielen, Jugendliche, die in Perspektivlosigkeit rebellieren. Niemand bleibt hier „unschuldig“, alle sind Teil eines Systems, das vollkommen auf Eskalation programmiert zu sein scheint.
Dabei ist der Film immer politisch – aber nie platt. Keine kitschige Auflösung, keine „wohlmeinende“ Versöhnung. Keine Rettung. Stattdessen ein realistisches Bild einer Gesellschaft, die sich in ihren Gräben eingerichtet hat. Ly erzählt nicht von „Kriminellen“ oder „Held:innen“, sondern von Menschen in einem toxischen sozialen Gefüge.
„Die Wütenden“ ist dabei nicht nur ein politisches Statement, sondern auch ein filmisch unglaublich packendes Erlebnis. Vom ersten Moment an zieht er sein Publikum hinein in die Atmosphäre Montfermeils. Der Film entfaltet eine fast thrillerhafte Spannung: Die eskalierende Gewalt, die klaustrophobische Enge, die immer wieder kurz aufflammenden Funken von Menschlichkeit – all das macht „Die Wütenden“ zu einem Kinoerlebnis, das gleichzeitig fesselnd und verstörend ist.
Er sucht keine Verbündeten im Publikum. Er biedert sich nicht an, er bittet nicht um unser Mitleid oder Verständnis. Stattdessen zwingt er uns, hinzusehen, auch wenn es unangenehm ist. Das macht „Die Wütenden“ zu einem unbequemen, aber wichtigen Werk: ein Film, der nicht gefallen will, sondern aufrütteln.
In Frankreich schlug „Die Wütenden“ hohe Wellen. Die Kritik feierte ihn als „explosives, authentisches Porträt“ (Le Monde), als „eines der wichtigsten Werke über die Banlieue“ (Libération). Gerade weil der Film auf vollkommene Authentizität setzt, weil er den Blick nicht abwendet, sondern die Komplexität des Konflikts zeigt, wurde er in der französischen Kulturszene als dringend notwendiges Werk gefeiert.
Zugleich war „Die Wütenden“ ein Weckruf: Viele sahen in ihm einen Spiegel, der der Gesellschaft ihre eigene Verantwortung vor Augen führt. Dass der Film 2019 den Preis der Jury in Cannes gewann und schließlich Frankreichs offizieller Beitrag für den Auslands-Oscar 2020 wurde, unterstreicht seine Bedeutung. Denn die Einreichung zum Oscar war auch ein klares Zeichen, dass Frankreich nicht nur künstlerisch herausragendes Kino liefert, sondern auch bereit ist, die eigenen sozialen Wunden auf die große Bühne zu heben. Zwar reichte es nicht zum Gewinn (der Preis ging an „Parasite“ von Bong Joon-ho), doch allein die Nominierung hat deutlich gemacht, dass „Die Wütenden“ kein lokales, ja nicht mal ein französisches Phänomen ist, sondern ein globales.
Der Film spricht universell: von den Rändern der Gesellschaft, von Machtmissbrauch, von der Frage, wie lange eine ausgegrenzte Bevölkerung wirklich unterdrückt werden kann. Er wirft Fragen auf, die über Frankreich hinausweisen: Wer hat in einer Gesellschaft ohne Perspektive eigentlich noch etwas zu verlieren? Was bleibt, wenn Vertrauen in Institutionen schwindet? Und schließlich: Welche Verantwortung tragen wir als Zuschauer:innen, die wir uns allzu oft in der wohligen Komfortzone des „gut gemeinten“ Betroffenheitskinos einrichten?
„Les Misérables“ ist wirklich kein Film, der sich bequem konsumieren lässt. Es ist ein radikaler, politischer Weckruf – ein Film, der den Finger in die Wunde legt und uns zwingt, die Wut nicht als Bedrohung zu betrachten, sondern als Symptom einer Gesellschaft, die ihre Ränder längst aufgegeben hat. Für Menschen wie mich, die Kino nicht nur als Unterhaltung, sondern auch als gesellschaftlichen Spiegel verstehen, ist dieser Film auch fünf Jahre später noch Pflichtprogramm!
Als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe, war ich ehrlich gesagt überrumpelt. Denn er hat eine Wucht, die sich nicht nur in den Bildern, sondern auch in der Atmosphäre entfaltet. Die erste Szene – ein kollektiver Freudentaumel nach dem WM-Sieg der französischen Mannschaft – ist elektrisierend, voller Hoffnung und Gemeinschaft. Erinnern Sie sich noch an das „Sommermärchen“? Auch so ein schöner nationaler Mythos. Und schon ein paar Minuten später, schlägt der Film uns dafür sprichwörtlich und verdient in die Fresse. Danke nochmal, Klinsi.
Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich selbst in den Konflikten hin- und hergerissen war. Wer hat Recht? Wer ist Täter? Wer Opfer? Mit wem bin ich solidarisch? Diese Fragen hat mir der Film nicht abgenommen. Stattdessen hat er mich gezwungen, mich mit meinen eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen. Das war unbequem, fast schmerzhaft – aber auch unglaublich kraftvoll.
Der Film vermittelt eine unglaubliche Beklemmung. Ein Gefühl, dass Gewalt wie ein Damoklesschwert über allen und allem hängt. Und immer wieder diese Momente, in denen wir kurz aufatmen wollen, weil er uns glauben lässt, dass es tatsächlich doch noch so etwas wie Empathie, wie Menschlichkeit gibt. Diese Balance die Ly zwischen Hoffnung und der knallharten kalten Realität gefunden hat, hat mich tief beeindruckt.
Was von dem Film am meisten in Erinnerung bleibt, ist die Wut, die aus den Bildern spricht – eine Wut, die nicht nur zerstörerisch, sondern auch kreativ ist. Eine Wut, die nicht einfach „Kriminalität“ ist, sondern ein Aufschrei, eine Rebellion gegen unsere Gesellschaft, die ihre Ränder schon zu lange ignoriert. Am Ende war ich wütend, traurig und gleichzeitig elektrisiert und unter Adrenalin – nicht wie nach zwei Stunden Kino, sondern eher wie nach einem Sprint durch ein Minenfeld. Der Film hat eine ganz klare Sprache und Botschaft:
Wegsehen ist keine Option.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 11.06.2025.
Sozialdrama, Frankreich, 2019, FSK: ab 16, Regie: Ladj Ly, Drehbuch: Ladj Ly, Giordano Gederlini, Alexis Manenti, Produktion: Toufik Ayadi, Christophe Barral, Musik: Marco Casanova, Kim Chapiron, Kamera: Julien Poupard, Schnitt: Flora Volpelière, Mit: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tientcheu, Almamy Kanoute, Nizar Ben Fatma, Raymond Lopez, Fediverse: @filmeundserien
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