Das (gar nicht) kleine Fernsehspiel – Stille Post (2022)

Übertreibungen gleich im Teaser eines Textes, das ist meistens Clickbait. Hier ist es aber so gemeint. Ausdrücklich! Weil dieser Film vermutlich der wichtigste ist, den sie nächste Woche verpassen würden, weil sie kaum davon gehört hätten, wenn nicht hier. Und das meine ich äußerst ernst!

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In diesem Debut(!)-Film von Florian Hoffmann geht es gleich um die ganz großen Themen. Was ist Wahrheit? Wo beginnt eine Lüge? Wie funktioniert unsere Wahrnehmung von Nachrichten und wie werden wir von ihnen manipuliert? Wie manipulieren wir uns selbst, weil wir nur noch wahrnehmen, was wir im Fernsehen gesehen haben um es zu glauben.

Die authentisch inszenierte kurdische Gemeinde in Berlin und der Türkei, ihr Kampf mit der türkischen Regierung Erdogans, der wahnsinnig starke Hauptdarsteller Hadi Khanjanpour und Kristin Suckow als seine Partnerin, und der Zynismus in der Berichterstattung deutscher Medien stehen hier nur stellvertretend auch für so ziemlich jeden anderen Konflikt auf der Welt.

Immer gibt es Menschen die direkt betroffen sind und jene, die sich dazu „verhalten“ müssen. Jene, dafür benutze ich das Wort „wir“, weil ich mich selbst dort einbeziehe, die nur wahrnehmen, „richtig spüren“ und dabei nicht hinterfragen, was sich in den Nachrichten „durchsetzt“. – Im Film gegen eine, nicht namentlich genannte „Sängerin“ mit 140 Mio Followern… da fällt es schwer nicht an Taylor Swift zu denken, die allerdings inzwischen bereits 270 Mio. davon hat.

Cizre lag in Schutt und Asche, tausende unschuldige Menschen waren ums Leben gekommen oder schwer verletzt – aber in unseren Medien wurde es mit keiner Zeile erwähnt! Ich setzte meine Recherche in verschiedenen Nachrichtenagenturen fort und wollte wissen: Warum wird über manche Kriege berichtet und andere einfach übergangen? Oder anders gefragt: Was brauchen Kriegsbilder, um im Wettbewerb um Medienaufmerksamkeit konkurrieren zu können? Es wurde eine dreijährige Drehbuchrecherche. Doch das Herzstück von „Stille Post“ sind die authentischen Handyvideos aus der kurdischen Krisenregion. Sie erinnern an die Videoaktivisten, die mutig jene Kriege dokumentieren, die in unserer Medienwelt keinen Platz finden – und denen dieser Film gewidmet ist.

(Regisseur Florian Hoffmann, Pressemappe, ZDF, 2024)

Hoffmann hat eine ausgezeichnete Hand für unglaublich starke Bilder. Die wenigen Sekunden, in denen zuerst  Sukow und später auch Khanjanpour sich in den authentischen Videobildern aus Cisre auf ihren Computerbildschirmen spiegeln, diese Bilder stehen für uns alle. Eine so starke Bildsymbolik habe ich selten gesehen.

Ähnlich stark nutzt der Regisseur nicht nur Originalaufnahmen aus dem Kriegsgebiet, sondern auch aus TV-Nachrichten und selbst dem Deutschen Bundestag. So wird klar, ein Teil Geschichte mag „ausgedacht“ sein, sie ist aber auch tief in „unserer“ Wirklichkeit verankert. Ob wir nun eine kurdische Fahne im Fenster hängen haben, oder nur einen Film sehen. Unsere Realität wird in deutschen Klassenzimmern geformt. Auch das ist eine Wahrheit.

Dem 35-jährigen Regisseur und Drehbuchautor geht es nicht ums Moralisieren. Wohl aber möchte Hoffmann uns mit diesem vielschichtigen und sehr präzise und behutsam inszenierten Film die Augen öffnen. Und zwar nicht nur, was den in diesen Zeiten wenig Aufmerksamkeit genießenden Dauerkonflikt zwischen Ankaras Militär und kurdischen Rebell*innen betrifft. Auch beim Krieg in der Ukraine und anderen militärischen Auseinandersetzungen schwingt die Bedeutung wirkungsmächtiger Bilder mit. Und immer wieder stehen Fragen zu ihrem Wahrheitsgehalt im Raum.

(Filmkritik, Vorwärts, 16.12.2022)

Es ist ein hochpolitischer Film, knallharte Medienkritik und eine wahrhaftige Tragödie. Weil kaum ein Mensch den Film sehen wird, wenn er vom ZDF nächste Woche Montag um fünf nach Mitternacht in der Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ im linearen Programm versenkt wird.

Auch wenn die Mediathek natürlich das Mittel der Wahl ist, die Schande zu mildern – hier wird einmal mehr deutlich, wie wertvoller Sendeplatz von redundanten Talkshows (ich meine sie, Frau Illner, Herr Lanz!) blockiert wird und wofür dieser, gesellschaftlich weitaus relevanter, genutzt werden könnte.


Stille Post (2022) – in der ZDF Mediathek bis bis 18.04.2024

Spielfilm, Deutschland, Schweiz, 2022
FSK: ab 12
Regie & Buch: Florian Hoffmann
Kamera: Carmen Treichl
Schnitt: Marco Rottig
Musik: Niklas Paschburg
Mit: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow, Jeanette Hain, Jacob Matschenz, Zübeyde Bulut, Aziz Capkurt, Vedat Erincin, Ferhat Keskin, Barbara Philipp, Konrad Singer, Sesede Terziyan


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