Fast 20 Jahre nach der Weltfinanzkrise, dem Kollaps der Lehman Brothers, und der Rettung von Banken überall auf der Welt mit dem Geld der Steuerzahler:innen, ist das ziemlich atemberaubende Debüt von J. C. Chandor noch immer ein Schlüssel, um den Finanzkapitalismus zu verstehen. Die Frage bleibt: Haben wir dazu gelernt, seitdem?
Vermögen sie sich eigentlich noch an den Beginn der (vorletzten?) Welt-Finanzkrise zu erinnern? Für die meisten Student:innen, die in den letzten paar Semestern das Studium der BWL/VWL oder der Jurisprudenz aufgenommen haben, wird das inzwischen wahrscheinlich nicht mehr als einen halben Absatz in ihren Lehrbüchern einnehmen. Wenn sie denn überhaupt darin vorkommt.
Ich habe meine alten Bücher (Günter Wöhe et al.) noch im Schrank, doch tatsächlich nie wirklich gelesen. Denn mein Studium der BWL habe ich nach einem Semester abgebrochen und stattdessen lieber Politik studiert. Das hat für den weiteren Verlauf meines Lebens allerdings keinen entscheidenden Unterschied gemacht. Da kann es so falsch nicht gewesen sein.
Auf das Kino allerdings hatte diese Mutter aller Krisen einen erheblichen Impact. Und im Grunde hat sie so ein ganz eigenes Genre neu begründet.
Finanzmarktthriller
In meiner eigenen Kinobiografie begann dieses Genre allerdings schon exakt 20 Jahre früher, mit „Wall Street“ (1987) von Oliver Stone. Und wenn sie heute in Talkshows noch von „Gordon Gekko“ hören, dann liegt es daran, wie sehr diese Figur, dargestellt von Michael Douglas, all das verkörpert hat, was den Kapitalismus zu einem System aus der Hölle werden ließ. Das waren, ganz nach Hans Günther Pflaum, Genre-Motive, „die durchaus auch Anleihen bei der Legende von Faust und Mephisto nehmen“. (Süddeutsche Zeitung, 20./21. Februar 1988)
Nun fließen all die Filme, die im Nachgang der Ereignisse von 2007/2008 herausgekommen sind, in meiner Erinnerung schon wieder so sehr zusammen, dass ich mich, wegen der überragenden Nähe des Themas, regelrecht bemühen müsste, sie auseinander zu halten. Wären da nicht die Ensembles und die Settings, um sie zu unterscheiden.
Margin-Call
Der Film, der aufgrund seiner derzeitigen Wiederholung in der Mediathek den eigentlichen Anlass zu diesem Beitrag gibt, steht ebenfalls auf jeder Shortlist zum Thema. Und das hat er verdient, weil er, noch viel stärker als seine thematisch Verwandten, aus dem globalen Drama ein Kammerspiel und eine individuelle Charakterfrage macht. Für mich ist es, bis heute, der beste Wall-Street Film, den ich kenne.
Spoilern kann ich solch einen Film ja schon deshalb nicht, weil wir, die wir alt genug sind, uns zu erinnern, noch wissen, wie es ausging. Doch darüber, wie es tatsächlich vorgegangen sein könnte, erfahren wir eine Menge.
„Anders als Oliver Stone in ‚Wall Street II‘ versucht J. C. Chandor die Krise nicht in einer faszinierend-bösen Gestalt zu erklären. Da er die Welt der Finanzmakler von seinem Vater her kennt, der bei Merrill Lynch arbeitete, balanciert der Regisseur zwischen ‚System‘ und ‚Charakter‘: Tatsächlich ist es erst einmal überraschend, im Zentrum der gewaltigen Katastrophe ganz normale Menschen zu sehen, die sich irgendwie verhalten müssen, während sie mit dem Rücken an der Wand stehen. […] „Die Maschine, von der sie ein Teil sind, ist derart groß und komplex geworden, dass niemand die zerstörerische Macht begreifen konnte, die von ihr ausging. Bis es zu spät war“, sagt J. C. Chandor. Weniger freundlich kann man es auch umgekehrt sagen: Die Menschen, die eine solche Maschine bedienen, sind so beschränkt, trivial und charakterlos, dass die Katastrophe unausweichlich wird.“
„Die Trader stürzen ab“ von Georg Seeßlen – tageszeitung, 28.09.2011
Tatsächlich geht es hier nur um einen einzigen Tag und die darauffolgende Nacht, in welcher eine der traditionsreichsten, größten, mächtigsten und deshalb wichtigsten Banken des Planeten zusammenbrechen sollte. Nicht mehr und nicht weniger. Im Grunde hat der Film außer ganz wenigen anderen Szenen, auch nur einen einzigen Schauplatz, einen Glaspalast, ganz ähnlich dem Gebäude der Lehman Brothers am Times Square in New York City.
(…) In dem Film geht es darum, dass seine Figuren nur um das Wohl ihrer Unternehmen besorgt sind. Es gibt keinen größeren Sinn für das öffentliche Wohl. Unternehmen sind amoralisch und existieren, um zu überleben und erfolgreich zu sein, koste es, was es wolle.
„Lange nächtliche Reise in den Kollaps“ von Roger Ebert – RogerEbert.com 19.10.2011
Die Inszenierung einer solchen Geschichte ist natürlich eine Herausforderung. Denn im Grunde passiert ja nichts in diesem Film, außer dass wir Menschen zusehen, die auf Bildschirme starren, herumlaufen und in Konferenzräumen sitzen – während außerhalb des Gebäudes, die Welt, wie wir sie kannten, sprichwörtlich untergeht.
Das braucht, insbesondere wegen der abstrakten Finanzmaterie, ein starkes Drehbuch, eine konsequente Regie und, vor allem, einen Cast, der es vermag, die Zuschauer:innen in die Geschichte hineinzuziehen, weil diese Menschen uns interessieren.
Hier sind es Zachary Quinto und Stanley Tucci, die den „gesunden Menschenverstand“ (Vorsicht vor Menschen, die eben jenes zum Gegenstand von Bewertungen machen!) repräsentieren. In einem Film, in dem die unterschiedlichen Grade von „Moral“ von Darsteller:innen mit der Anziehungskraft von Kevin Spacey, Jeremy Irons, Mary McDonnell oder Demi Moore verkörpert werden, ist das eine große, eigentlich nicht gewinnbare Aufgabe.
Es geht nur um eine überschaubare Gruppe von Menschen, die im Finanzkapitalismus immer über genügend Rettungsbote (oder Helikopter) verfügen, um sich vor der Katastrophe, die sie selbst ausgelöst haben, in Sicherheit zu bringen. Klar ist, dass niemandem von ihnen eine Opferrolle zusteht, weil sie mehr oder weniger blind die Mechanismen des Systems bedingt und bedient haben, während die wahren Opfer immer die Menschen da draußen waren, jenseits der Fenster des gläsernen Bank-Turmes – zu Füßen der Kathedrale des Kapitals.
Das Finale des Filmes ist ein emotionaler Schlusspunkt, an dem ich fast Mitleid hatte, mit diesen vollkommen unmoralischen, ja unmenschlichen Charakteren. Doch es ist auch ein sehr moralisches Ende, weil kein Geld der Welt ein Leben – und sei es das eines Hundes – ersetzen kann.
Drama, USA, 2011, FSK: ab 12, Regie & Drehbuch: J. C. Chandor, Produktion: Robert Ogden Barnum, Michael Benaroya, Zachary Quinto, Neal Dodson, Corey Moosa, Joe Jenckes, Musik: Nathan Larson, Kamera: Frank G. DeMarco, Schnitt: Pete Beaudreau, Mit: Kevin Spacey, Paul Bettany, Jeremy Irons, Zachary Quinto, Penn Badgley, Simon Baker, Mary McDonnell, Demi Moore, Stanley Tucci, Ashley Williams
Schreiben Sie einen Kommentar
Sie müssen angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.