Wirklich großartige Filme altern einfach anders. Ich glaube, auf diesen Konsens können wir uns einigen, wenn wir das Generationenmeisterwerk von Mike Nichols nach 57 Jahren wieder sehen. Eigentlich kann das Kino ja nicht wirklich lieben, wer diesen Film nie gesehen hat.
Ich bin mir nicht sicher, ob es denn heute, fast sechs Jahrzehnte später, für ein Filmstudio eigentlich tatsächlich viel selbstverständlicher wäre, einen Film wie diesen in Auftrag zu geben. 1967 gelang es nur jenseits der großen Studios als unabhängiger Independentfilm. Die #MeToo Bewegung begann, auf das Jahr genau, erst 50 Jahre später. Und Hollywood ist (zum Glück) seither nicht mehr dasselbe.
„The funniest American comedy of the year.“
Oh ja, auch ich habe wiederholt laut lachen müssen. Dustin Hoffman war tatsächlich mehr als eine tragisch-komische Idealbesetzung für den jungen College-Absolventen. Wenn sie mich fragen, dann gehört sein Auftritt im Taucheranzug in jeden großen Kinorückblick des 20. Jahrhunderts.
Doch stellen wir uns mal vor, die Rollen wären etwa vertauscht, und es wäre keine deutlich ältere, verheiratete Frau, die hier einen Studenten verführt, sondern ein deutlich älterer, verheirateter Mann. Und dessen sexuellen Avancen würden eben einer jungen Studentin gelten? Das Machtgefälle wäre so dramatisch-offensichtlich und gleichsam real, alles andere als ein tragisches Drama könnte ein solcher Film gar nicht werden. Das gilt noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später.
Und darin liegt für mich die erzählerische Genialität des Films. Denn in der Umkehrung der Geschlechterstereotype, meinen wir Komik zu erkennen. Zum Lachen ist das aber eigentlich nur, weil die in Wahrheit gar nicht lustigen „normalen“ Machtverhältnisse unserer Gesellschaft auf den Kopf gestellt – und damit zur Karikatur und um so deutlicher werden. So konnte Mike Nichols einen wirklich zeitlosen Volltreffer landen.
Ich werde den Film hier nicht zu einem feministischen Manifest hoch schreiben. Das ist er sicher nicht. Das liegt auch an der – im Vergleich zu ihrer Mutter (großartig: Anne Bancroft) – deutlich kleineren und eher passiven Rolle der Elaine (Katharine Ross). Doch dass Frauen sich einfach nehmen, was sie wollen – auch Sex – ist im Kino bis heute noch nicht wirklich gleichermaßen angekommen, wie das Gegenteil davon seit Jahrzehnten der Standard ist.
Und wenn wir uns aus diesem Anlass etwa über Themen wie die Orientierungslosigkeit der Jugend, die Entfremdung der Generationen, die Privilegien und ganz eigenen sozialen Probleme der kapitalistisch großbürgerlichen Klasse unterhalten, dann merken wir auf einmal, wie viel „Die Reifeprüfung“ auch den Generationen X-Y-Z eigentlich noch zu geben hat.
Für Dustin Hoffman jedenfalls, den unbekannten kleinen Theaterschauspieler aus Los Angeles, war dieser Film eine Reifeprüfung, die ihn direkt in die Stratosphäre des Himmels über Hollywood katapultiert hat. Er wurde nicht der letzte Filmstar des 20. Jahrhunderts. Aber sicher einer der größten.
Lieblingsfilm!
*Erst beim Korrekturlesen dieses Beitrags ist mir aufgefallen, dass ich nicht ein einziges Wort über den Soundtrack des Films und Simon & Garfunkel verloren habe. Das ist eigentlich sträflich, denn tatsächlich wäre dieser Film vollkommen unvorstellbar, ohne ihre Musik.
Dieser Beitrag ist zuerst am 18.05.2024 erschienen.
Drama, USA, 1967, FSK: ab 12, Regie: Mike Nichols, Drehbuch: Calder Willingham, Buck Henry, Produktion: Lawrence Turman, Musik: Dave Grusin (Filmmusik), Paul Simon (Songs), Kamera: Robert Surtees, Schnitt: Sam O’Steen, Mit: Dustin Hoffman, Anne Bancroft, Katharine Ross, Murray Hamilton, William Daniels, Elizabeth Wilson, Buck Henry, Norman Fell, Brian Avery, Walter Brooke, Alice Ghostley, Marion Lorne
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