Ein stiller Film über das Leben im Ausnahmezustand: Elia Suleiman, palästinensischer Regisseur und Chronist der Absurditen, inszeniert eine lakonisch-humorvolle Meditation über Exil, Identität und die Vergeblichkeit politischer Kontrolle. Der Film ist aktueller denn je – nicht, weil er einfache Antworten gibt, sondern weil er die richtigen Fragen stellt.
Zwischen Zitronenduft, Überwachungskameras und stummer Rebellion entsteht ein Raum der Reflexion, der sich jeder Vereinnahmung entzieht. In einer Welt, in der politische Erzählungen von Lagerdenken bestimmt sind, erinnert uns Elia Suleiman an die Menschlichkeit jenseits der Narrative – leise, poetisch, unnachgiebig. Ein ganz kleines Werk, das seine Kunst des Beobachtens kultiviert – und dabei die politische Relevanz des Kinos einmal mehr neu vermisst.
Die namenlose Hauptfigur E.S., gespielt vom Regisseur selbst, reist in seine Heimatstadt Nazareth, wo er nach dem Tod seiner Eltern Abschied vom Haus seiner Kindheit nimmt. Wehmütig registriert E.S., wie sich seine Heimat durch die israelische Besatzung, fundamentalistische Muslime und allzu besitzergreifende Nachbarn in etwas verwandelt hat, das ihm fremd geworden ist. (…)
ARTE Programmtext
In Elia Suleimans viertem Langspielfilm geht es einmal mehr mit den Mitteln der Komödie um das Lebensgefühl der Palästinenser – diesmal allerdings in der Diaspora. Doch weil E.S., die Hauptfigur, die Heimat überallhin mitnimmt, erscheinen New York und Paris auf ihre Weise genauso fremd, absurd und seltsam wie Nazareth.
In einer Zeit, in der die täglichen Bilder aus Gaza und Israel unsere Menschlichkeit, aber auch unsere Urteilsfähigkeit fordern, wirkt dieser Film wie ein poetischer Einspruch gegen die Eindeutigkeit. Ich brauche solche Filme zum Überleben. Ich kann mit Eindeutigkeit nicht einschlafen. Die Welt ist nicht so. Die Welt ist niemals so, dass sie etwa eindeutig ist. Und wenn das so scheint, dann glaube ich das nicht.
Suleiman, palästinensischer Filmemacher und zugleich stoische Hauptfigur des Films, personifiziert dabei nicht nur das palästinensische Dilemma, sondern eine universelle Erfahrung von Entfremdung, Überwachung und der Suche nach Zugehörigkeit. Ganz gleich, ob in Nazareth, Paris oder New York – den Schauplätzen des Films – überall begegnet er einem Weltzustand, der sich hinter anscheinend höflicher Ordnung verbirgt, aber von Misstrauen, Militarismus und vollkommen absurder Kontrolle durchzogen ist.
Zentrales Motiv ist ein Zitronenbaum in seinem Hof. Ein traditionelles Symbol der Fürsorge, des Durchhaltens, vielleicht sogar des stillen Widerstands. Dieser Baum ist keine Metapher, sondern tatsächlich lebendiges Zentrum des Films – wie eine leise Erinnerung daran, dass Hoffnung nicht wächst, wenn man nur auf Schlagzeilen reagiert.
Auch deshalb habe ich mir für diesen Beitrag einmal Stimmen gesucht, die sonst nicht im großen Medienchor mitsingen, sondern die kleinen, die wir sonst nicht hören würden:
„Die immer wiederkehrenden Abläufe, die Gesetzmäßigkeit von Rache, die Choreografien von Gewalt und Gegengewalt. Es ist das menschliche Ballett und Drama von staatlicher Übergriffigkeit und dem Ausgesetztsein einzelner.“
Vom Giessen des Zitronenbaums. Theologischer Impuls zur Kinokirche am
19.01.2019, von Stadtpastor Johannes Ahrens, Schleswig (PDF)
Suleiman ist kein moralischer Ankläger. Er ist ein Beobachter – überall – mit staunendem, fast kindlichem Blick. Seine Kamera verharrt, registriert, vergleicht. Der politische Impuls ist da, doch er wirkt wie gefiltert durch ein ästhetisches Vexierspiel: die Choreografien von Macht, das stumme Ballett der Bürokratien, die Gleichförmigkeit der Gewalt.
„Elia Suleiman verwandelt Gedanken mit unbeweglicher Miene in eine Komödie und zeigt damit, dass man auch ohne Gewalt protestieren kann.“
Tanzschrift, Ditta Rudle, 12.01.2020
Die episodische Struktur des Films hat ein wenig etwas von einem anderen meiner Lebenslieblingsfilme, Jim Jarmuschs „Night on Earth“ (1991), die Schauplätze in Nordamerika, Europa und Palästina ergeben ein Bild der Welt und spiegeln ein fragmentiertes und oft chaotisches Leben in einem Konfliktgebiet wider. Und dieses Konfliktgebiet ist irgendwie erst einmal überall.
Inmitten der endlos fortlaufenden Eskalation im Nahostkonflikt erhält der Film allerdings nochmal eine neue, doch eigentlich wirklich keine andere Relevanz als 2020. Der brutale Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 und die darauffolgenden brutalen israelischen Militäraktionen haben unermessliches Leid auf beiden Seiten verursacht.
Doch Suleimans Film verweigert sich jeder Einseitigkeit – und hat eine klare Haltung: die der universellen Menschlichkeit. Seine Figur ist ein stiller Widerstandskämpfer, der mit Humor und Absurdität gegen die Gewalt des Terrors und der Unterdrückung antritt, ohne sich in direkte Konfrontationen zu begeben. Suleiman selbst sieht darin eine Form des Protests, die subtiler und nachhaltiger wirkt als die Darstellung von Gewalt:
„Ich finde, Gewalt im Kino zu zeigen, verstärkt letztendlich nur die Gewalt, und das wird redundant. Ich habe da andere Mittel, die ich für sehr viel subtiler und witziger halte, und das ist, beispielsweise Absurdität oder Humor zu zeigen und nicht so etwas Vulgäres darzustellen, was man viel zu oft im heutigen Kino sieht.“
„Irrfahrt in die Abgründe unserer Zeit“, DLF Kultur, 11.01.2020 (+Audio)
Gerade in Zeiten von Krieg, Zerstörung und unermesslichem Leid sind mir solche künstlerischen Stimmen essenziell, um an die gemeinsame Menschlichkeit aller Beteiligten zu erinnern – und daran, dass Zitronenbäume, wenn man sie pflegt, wieder und weiter blühen können.
Am Ende bleibt Elia Suleimans „Vom Gießen des Zitronenbaums“ ein Film, der nicht laut ruft, sondern still erinnert. Er erinnert daran, dass hinter den großen politischen Fragen immer Menschen und Leben stehen. Dass Humor, Poesie und der Blick für das Absurde nicht Flucht aus der Realität sind, sondern ein Akt des Widerstands – und manchmal, tatsächlich, der einzige mögliche.
Inmitten einer Welt, die zunehmend von Polarisierung, Gewalt und Unversöhnlichkeit geprägt ist, zeigt Suleiman, dass der einfache Akt, einen Baum zu gießen – einen Ort zu pflegen, einen Gedanken festzuhalten – bereits eine politische Geste ist. Kein Manifest, kein Slogan, sondern ein stilles Beharren. Auf Menschlichkeit.
Gerade heute brauche ich Geschichten wie diese: Geschichten, die nicht urteilen, sondern verstehen wollen. Geschichten, die Gräben nicht vertiefen, sondern die Brücke sind – zwischen Erinnerung und Zukunft, zwischen Trauer und Neubeginn. Geschichten, die daran erinnern, dass ein Frieden überhaupt möglich ist. Doch kein Frieden beginnt mit Parolen.
Er beginnt mit einem Tropfen Wasser auf trockenem Boden.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 24.05.2025.
Tragikomödie, Deutschland, Frankreich, Kanada, Palästina, Türkei, FSK: ab 0, Regie: Elia Suleiman, Drehbuch: Elia Suleiman, Produktion: Martin Hampel, Thanassis Karathanos, Michel Merkt, Serge Noël, Laurine Pelassy, Elia Suleiman, Edouard Weil, Kamera: Sofian El Fani, Schnitt: Véronique Lange, Mit: Elia Suleiman, Gael García Bernal, Ali Suliman, Grégoire Colin, Holden Wong, Sebastien Beaulac, Vincent Maraval, Alain Dahan, Robert Higden, François Girard, Basil McKenna, Raia Haidar, Ossama Bawardi, Yumi Narita, Kengo Saito, Fediverse: @filmeundserien
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