Ach, du schöne Duisburger Tristesse! In „Renn, wenn du kannst“, dem hinreißend klugen Kinodebüt von Dietrich Brüggemann, rollt nicht nur der Protagonist Ben durch die Welt, sondern auch das Publikum durch eine Achterbahn aus Zynismus, Romantik und bittersüßer Ironie.
Keine Sorge: Hier gibt’s keinen Kitsch, kein Mitleid, keine heiligen Krücken. Stattdessen eine Dreiecksgeschichte, die beweist, dass Liebe und Freundschaft komplizierter sein können als jede noch so steile Rampe.
Ben, gespielt von Robert Gwisdek, ist ein Rollstuhlfahrer, der mit messerscharfem Humor und einem unverhohlenen Zynismus sein Umfeld auf Abstand hält. Seine Wohnung in Duisburg ist sein Reich – ein kleines Universum zwischen Couch, Computer und abgedunkelten Vorhängen. Hierher kommt Christian (Jacob Matschenz), ein junger Zivildienstleistender, der zwar Gitarre spielt, aber vor allem ein aufmerksamer Zuhörer ist. Zwischen ihnen entsteht eine seltsam intensive Dynamik: Ben testet Christians Geduld mit sarkastischen Spitzen, während Christian sich von Bens Intellekt angezogen fühlt.
Dann tritt Annika ins Spiel: eine Cellistin, die mit ihrer Musik nicht nur den Raum, sondern auch die Herzen der beiden Männer füllt. Anna Brüggemann (die Schwester des Regisseurs – Kunst ist ein Familienbetrieb!) spielt Annika als ebenso verletzlich wie lebensfroh. Ihre Anwesenheit wirbelt alles durcheinander: aus Freundschaft wird Konkurrenz, aus Zynismus leise Hoffnung.
Besonders schön ist, wie Brüggemann seine Figuren zeichnet. Keine Abziehbilder, keine plakativen Botschaften. Ben ist nicht nur der “arme Rollstuhlfahrer”, sondern ein scharfzüngiger, komplexer Typ, der genauso eitel und fehlerbehaftet ist wie alle anderen. Christian wiederum ist der stille Held, der nicht aufgibt, auch wenn’s unbequem wird. Und Annika? Die bringt nicht nur ihr Cello, sondern auch eine Leichtigkeit, die das Trio zusammenhält – oder auseinandertreibt.
Der Film meidet jede übertriebene Dramatik. Stattdessen gibt es viele leise Momente, die umso lauter nachhallen: das Scheitern, das Streiten, das zarte Sich-Verlieben. Dabei wirkt nichts aufgesetzt – Brüggemann zeigt, wie normal und gleichzeitig außergewöhnlich das Leben mit Behinderung sein kann. Ein Film, der mehr fragt, als antwortet und dabei nie den Respekt vor seinen Figuren verliert. Statt Mitleidsnummer oder Superheldenpose zeigt er: Menschen mit Behinderung sind Menschen. Punkt.
Nein, der Film ist absolut keine niedliche Komödie. Er ist rau, schmutzig und wahr. Lachen werden Sie vermutlich aber doch – und zwar jede Menge – über das Trio. Wenn Sie Lust auf eine bittersüße Liebesgeschichte haben, die mit Witz, jeder Menge Herz und einem durchaus drastischen Schuss Realität daherkommt, dann passt das. Ob Sie lachen oder weinen, bleibt ihnen überlassen.
Wegschauen geht hier nicht.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 30.05.2025.
Inhaltswarnung: Suizid ist ein Nebenthema in der Handlung dieses Films. Für sensible Personen kann er deshalb unter Umständen schwer zu ertragen sein. Wenn Sie Zweifel daran haben, ob Sie sich dem aussetzen wollen, dann sehen Sie sich den Film bitte nicht an!
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Tragikomödie, Deutschland, 2010, FSK: ab 12, Regie: Dietrich Brüggemann, Drehbuch: Dietrich Brüggemann, Anna Brüggemann, Produktion: Stefan Schubert, Ralph Schwingel, Sabine Holtgreve, Musik: Milena Fessmann, Kamera: Alexander Sass, Schnitt: Vincent Assmann, Mit: Robert Gwisdek, Jacob Matschenz, Anna Brüggemann, Daniel Drewes, Amelie Kiefer, Franziska Weisz, Michael Sens, Leslie Malton, Jörg Bundschuh, Sven Taddicken, Alexander Hörbe, Arne Gottschling, Christian Ehrich, Fediverse: @filmeundserien@a.gup.pe
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