Anthony Hopkins – „The Father“ (2020)

Es gibt Filme, die nicht nur unsere Sinne berühren, sondern unsere Wahrnehmung herausfordern. Florian Zeller nimmt uns mit in eine Welt, in der die Realität zerbricht, die Zeit sich auflöst und das eigene Ich sich langsam verliert. Was mich dabei so tief bewegt hat, ist nicht nur die erzählerische Präzision, sondern auch der stille politische Kommentar, der sich unter der Oberfläche verbirgt.



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Florian Zeller, der das Drehbuch auf der Grundlage seines eigenen Theaterstücks schrieb und mit „The Father“ (2020) sein Regiedebüt im Kino feierte, gelingt ein filmisches Kunststück: Er lässt uns das Innenleben eines Menschen erleben, der sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Der Perspektivwechsel, den er erzwingt, ist radikal.

Es ist nicht das Umfeld, das wir beobachten, sondern das Innenleben von Anthony – gespielt von einem Anthony Hopkins, der hier eine der besten und erschütterndsten Leistungen seiner langen Karriere zeigt. Statt erklärender Rückblenden oder didaktischer Erzählstimmen sind wir im Kopf des Protagonisten gefangen. Was für mich zunächst wie ein intellektuelles Stilmittel wirkte, wurde schnell zu einer existenziellen Erfahrung.

Hopkins’ Darstellung ist nicht nur brillant, sie ist ein Akt tiefer Menschlichkeit. In jeder Geste, in jedem Blick, in jedem Moment des Aufbegehrens oder der Verzweiflung offenbart sich nicht nur das Ringen mit dem eigenen Verstand, sondern auch die ganze soziale Isolation, die diese Krankheit so gnadenlos macht.

Es wäre zu einfach, ihn nur als Opfer der Demenz zu sehen. Vielmehr zeigt Hopkins eine Figur, die sich gegen das Vergessen auflehnt, trotzig, verletzlich, manchmal grausam. Dass wir ihn dabei trotzdem nicht verlieren, dass unsere Empathie bleibt – das ist sein Verdienst, aber auch das von Olivia Colman, die als Tochter Anne einen fast ebenso schwierigen Part übernimmt.

Colman spielt mit leiser Intensität, ohne Pathos, dafür mit einer Wärme, die unter der Oberfläche immer wieder bricht. Ihr Schmerz, ihre Hilflosigkeit, ihre Müdigkeit – sie tragen sich durch den ganzen Film und stellen dabei eine zentrale Frage: Wie geht unsere Gesellschaft mit Pflege um? Und was bedeutet es, für jemanden da zu sein, wenn dieser jemand langsam verschwindet?

In Colmans Figur wird diese Frage zur offenen Wunde, zur Anklage und zur tiefen Liebeserklärung zugleich. Ich habe lange gebraucht, um mich nach diesem Film wieder zu sammeln, weil er so nah an die Lebensrealität vieler Menschen rückt – und das auf eine Weise, die keine Abstraktion erlaubt.

Die Inszenierung spielt eine entscheidende Rolle. Die Wohnung, in der der Großteil des Films spielt, verändert sich subtil, fast unmerklich – Möbel verschwinden, Farben wechseln, Grundrisse verschieben sich. Ich ertappte mich selbst beim Zweifeln: War dieser Flur vorher schon da? Stand dort nicht ein Sessel? Diese Form der Desorientierung, die sonst dem Publikum Orientierung geben soll, ist hier ein zentraler Ausdrucksmoment. Die visuelle Gestaltung arbeitet gegen unsere Sehgewohnheiten und macht so das Unsichtbare sichtbar – den Zerfall des Gedächtnisses, den Bruch mit der Realität.

Dabei bleibt „The Father“ immer sehr zurückhaltend, geradezu unprätentiös. Die Musik tritt fast völlig in den Hintergrund, das Drehbuch ist reduziert und präzise. Es gibt keine melodramatischen Ausbrüche, keine wohlfeilen Erklärungen. Zeller verlässt sich ganz auf die Intelligenz und Sensibilität seines Publikums – ein großes Vertrauen, das sich auszahlt.

Gleichzeitig eröffnet diese formale Strenge auch Raum für eine tiefere, systemische Kritik: Denn was hier erzählt wird, ist nicht nur ein individueller Schicksalsschlag. Es ist ein Spiegel für die Art, wie wir mit Alter, Pflege und Verwundbarkeit umgehen. Wie schnell Menschen, die nicht mehr „funktionieren“, aus dem Blickfeld geraten. Wie wenig Unterstützung Angehörige bekommen. Und wie sehr unser Gesundheitssystem auf Kosten der Schwächsten rationalisiert wird.

In dieser Hinsicht hat mich The Father mehr an Dokumentationen über Pflegeheime erinnert als an klassische Demenz-Dramen. Anders als etwa Still Alice“ (2014), das mehr aus der Sicht der Betroffenen erzählt, oder „Amour“ (2012) von Michael Haneke, der das Sterben in aller Konsequenz zeigt, verweigert sich Zeller dem voyeuristischen Blick. Es geht nicht um das Leiden an sich, sondern um die Perspektive, die uns in das Leiden hineinzieht – und um die Strukturen, die dieses Leiden verstärken.

In einer Welt, die auf Selbstoptimierung und Produktivität ausgerichtet ist, stellt dieser Film eine fast radikale Gegenposition dar: Er macht die Langsamkeit, das Scheitern, die Hilflosigkeit zur erzählerischen Mitte. Und das wirkt, vielleicht mehr als alles andere, wie ein stiller Protest.

Auch stilistisch reiht sich „The Father“ nicht in die Tradition des gefälligen Sozialdramas ein. Keine rührselige Musik, kein wohlfeiles Happy End. Stattdessen eine konsequente Verunsicherung, die uns zwingt, die eigenen Urteile immer wieder zu hinterfragen. Ist Anthony ein Opfer oder ein Täter? Ist Anne selbstlos oder egoistisch?

Gibt es überhaupt klare Antworten auf solche Fragen, wenn Pflege zur Belastung wird, für die es keine ausreichenden gesellschaftlichen Lösungen gibt? Ich hatte nicht den Eindruck, dass Zeller hier Antworten geben will – vielmehr öffnet er einen Raum, in dem Fragen laut werden dürfen, die sonst oft verdrängt werden.

Mir ist bewusst, dass nicht jede:r diesen Film so empfinden wird. Vielleicht wirkt er auf manche distanziert oder zu konzeptuell. Aber genau darin liegt seine Kraft: Er nimmt uns nicht an die Hand, sondern fordert uns heraus. Er bringt uns dazu, uns zu positionieren. Emotional, politisch, sozial.

Für mich war „The Father“ eine der eindrücklichsten Erfahrungen im Kino der letzten Jahre, weil er zeigt, wie viel Empathie in formaler Strenge liegen kann. Und wie dringend es ist, über Fürsorge, Pflege und gesellschaftliche Verantwortung nicht nur zu sprechen, sondern zu fühlen und dann politisch zu handeln.

Schweres, aber exzellentes Fernsehen!

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 17.06.2025.


Inhaltswarnung: Der Film thematisiert auf eindringliche Weise Altersdemenz, psychische Verwirrung, emotionale Isolation und familiäre Überforderung. Er kann für Menschen mit persönlichen Erfahrungen in diesen Bereichen sehr belastend sein. Der Autor konnte den Film nicht an einem Stück sehen. Er hat sich zwischendurch eine Pause nehmen müssen.



Drama, Großbritannien, Frankreich, 2020, FSK: ab 6, Regie: Florian Zeller, Drehbuch: Christopher Hampton, Florian Zeller, Produktion: Philippe Carcassonne, Simon Friend, Jean-Louis Livi, David Parfitt, Christophe Spadone, Musik: Ludovico Einaudi, Kamera: Ben Smithard, Schnitt: Yorgos Lamprinos, Mit: Anthony Hopkins, Olivia Colman, Imogen Poots, Rufus Sewell, Olivia Williams, Mark Gatiss, Ayesha Dharker, Fediverse: @filmeundserien,



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