Coline Serreaus Film ist keine lineare Erzählung, keine klassische Fiktion, sondern eine Komödie als poetische Meditation über das Leben, das wir führen, und das Leben, das wir vielleicht längst verlernt haben zu träumen. „Der Grüne Planet“ ist einer dieser seltenen Filme, die sich nicht abnutzen. Die beim zweiten, dritten, fünften Sehen nicht alt, sondern tiefer werden. Und die uns – wenn wir es zulassen – dazu bringen können, Fragen zu stellen, die wir längst vergessen haben.
Die Prämisse mag phantastisch erscheinen: ein Planet, fern der Erde, auf dem Menschen in völliger Harmonie mit der Natur leben, ohne Geld, ohne Hierarchien, ohne Maschinen. Ein Ort, an dem keine Technologie gebraucht wird, weil das Miteinander genügt. Und als dort, in einem fast tänzerischen Kreis von Menschen, beschlossen wird, wieder einmal die Erde zu besuchen, beginnt keine Invasion, sondern ein leiser Akt der Beobachtung – eine zarte Konfrontation.
Mila, gespielt von Coline Serreau selbst, ist Botschafterin einer anderen Realität. Ihre Reise auf die Erde ist nicht nur ein Aufeinandertreffen zweier Welten, sondern auch ein Spiegel für ihr Publikum. Durch ihre Augen wird das Vertraute fremd, das Normale absurd, das Alltägliche grotesk. Doch das Erstaunlichste ist: Dieser Spiegel ist kein kalter, kein spöttischer. Er ist voll Mitgefühl. Serreaus Blick auf unsere Welt ist liebevoll, selbst in der Kritik. Sie klagt nicht an – sie fragt. Und diese Fragen treffen auch fast 30 Jahre später noch.
Was ist Fortschritt? Was ist Bildung? Was ist Gesundheit? Was ist Macht? Der Film stellt all diese Begriffe auf den Kopf. Wenn Mila durch Paris wandert, trifft sie auf Bürokrat:innen, Mediziner:innen, Polizist:innen, Professor:innen – und überall stößt sie auf eine Sprachlosigkeit, die von tiefer Entfremdung zeugt. Es ist, als ob unsere Gesellschaft in einem selbstgebauten Käfig lebt, dessen Gitterstäbe aus Routinen, Gesetzen und Normen bestehen. Doch Serreau zerlegt diesen Käfig nicht mit Wut, sondern mit Poesie. Mit einem Lächeln. Mit einem kindlichen Staunen.
Der Film hat keine klassische Dramaturgie, keine Held:innenreise, keine Gewalt, keine Effekte. Und doch passiert etwas Magisches. Mila verteilt „Deprogrammierungen“, kleine Impulse, die Menschen dazu bringen, ihre Realität infrage zu stellen. Ein Politiker bricht in ein befreiendes Lachen aus. Ein Arzt erkennt, dass seine Sprache leer geworden ist. Eine Mutter erinnert sich an ihr eigentliches Bedürfnis: Verbindung. All das geschieht nicht durch Predigt, sondern durch Verschiebung – durch ein inneres Aufwachen, das die Figuren selbst kaum begreifen. Es ist, als würde ganz vorsichtig ein Fenster geöffnet und frische Luft in einen lange verschlossenen Raum gelassen.
Coline Serreau ist eine Regisseurin, die das Politische mit dem Poetischen verwebt. Ihre Kritik an Konsum, Kapitalismus, Patriarchat, medizinischer Kontrolle und kolonialer Geschichte ist radikal – aber nicht fundamentalistisch. Sie vertraut auf die Kraft der Bilder, auf das absurde Detail, auf das sanfte Infragestellen. Der Film erinnert in seiner Klarheit an Werke wie „Sans Soleil“ (1983) von Chris Marker, an die stille Aufrichtigkeit von „Woman at War“ (2018). Aber anders als viele dystopische oder moralisierende Filme, zeigt „Der Grüne Planet“ keine zerstörte Welt – sondern eine mögliche.
Die Utopie, die Serreau entwirft, ist keine technologische Fantasie. Es ist eine Rückkehr – zur Erde, zum Körper, zur Empathie. Und weil diese Utopie so still, so unaufgeregt daherkommt, berührt sie umso mehr. Es gibt keine Erlöser:innenfigur, keinen Knalleffekt. Es gibt nur Menschen, die sich an etwas erinnern. An eine andere Art, zu leben. Eine, in der das Lachen eines Kindes wichtiger ist als das Ergebnis einer Sitzung. Eine, in der die Erde nicht Objekt, sondern Verbündete ist.
Die Darsteller:innen – viele davon aus dem Umfeld von Serreau selbst – fügen sich nahtlos in diese zarte Vision ein. Vincent Lindon spielt den Arzt, dessen Kontrollsicherheit ins Wanken gerät, mit einer Mischung aus Arroganz und Verletzlichkeit. Die Kinder, denen Mila begegnet, sind keine Nebenfiguren, sondern Träger:innen einer Wahrheit, die die Erwachsenen verlernt haben. Und Serreau selbst gibt Mila eine stille Kraft, eine Würde, die nicht imponiert, sondern zuhört. Sie ist keine Heldin, sondern eine Reisende. Und wir reisen mit.
Was mich an diesem Film schon vor 30 Jahren so bewegt hat, ist seine poetische Hoffnung. Trotz aller Kritik, trotz der klaren Benennung von Gewalt, Ausbeutung und Entfremdung, bleibt „Der Grüne Planet“ ein zutiefst hoffnungsvoller Film. Er erinnert daran, dass Veränderung möglich ist. Nicht als Revolution, nicht durch Technik, sondern durch Erinnerung. Durch die Rückkehr zu einem Wissen, das vielleicht immer schon da war – aber überlagert wurde von Lärm, Tempo und Macht.
Obwohl „Der Grüne Planet“ schon 1996 entstand, in einer Zeit vor Smartphones, sozialen Medien, Künstlicher Intelligenz und flächendeckender digitaler Überwachung, trifft seine Kritik an Technologie und Entfremdung heute vielleicht sogar noch härter. Der Film karikiert nicht einzelne Geräte oder Erfindungen, sondern stellt das Prinzip infrage, mit dem wir Technik über Beziehung, Effizienz über Achtsamkeit und Kontrolle über Vertrauen stellen.
Dass Mila keinen Computer kennt, macht ihre Irritation über die Entfremdung der Menschen nicht weniger relevant – im Gegenteil. Heute tragen wir die Bildschirme, die uns voneinander trennen, in der Hosentasche. Die Systeme, die Serreau in ihrer poetischen Zukunftsvision entlarvt, sind tiefer, struktureller:
Es geht um Abhängigkeit von externen Steuerungen, um blindes Vertrauen in Institutionen, um das Verschwinden echter Verbindung. Gerade deshalb ist der Film erstaunlich gut gealtert – weil seine Fragen nicht an technische Entwicklungen gebunden sind, sondern an eine innere Haltung, die uns immer noch herausfordert.
Ich glaube, wir brauchen solche Filme. Filme, die uns nicht belehren, sondern berühren. „Der Grüne Planet“ ist einer dieser seltenen Filme, die sich nicht abnutzen. Die beim zweiten, dritten, fünften Sehen nicht alt, sondern tiefer werden. Und die uns – wenn wir es zulassen – dazu bringen können, Fragen zu stellen, die wir längst vergessen haben.
Wer sind wir, wenn niemand uns sagt, was wir zu sein haben? Was brauchen wir wirklich?
Was wären wir bereit aufzugeben, um frei zu leben?
DIeser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 17.06.2025.
Inhaltswarnung: Der Film thematisiert koloniale Geschichte, medizinische Gewalt, patriarchale Strukturen und die destruktiven Auswirkungen kapitalistischer Systeme. Einige Szenen können für Zuschauer:innen mit entsprechenden Erfahrungen emotional herausfordernd sein – oder befreiend.
Komödie, Dystopie, Frankreich, 1996, FSK: ab ?, Regie: Coline Serreau, Drehbuch: Coline Serreau, Musik: Coline Serreau, Kamera: Robert Alazraki, Schnitt: Catherine Renault, Mit: Coline Serreau, Vincent Lindon, James Thiérrée, Samuel Tasinaje, Marion Cotillard, Claire Keim, Catherine Samie, Paul Crauchet, Fediverse: @filmeundserien
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