Als ich „Reservoir Dogs“ vor über 30 Jahren zum ersten Mal gesehen habe, war ich Ende 20 – Tarantino ist also einer meiner Generation – und hat mich völlig überwältigt. Dieser Film hatte eine Energie, eine Coolness, die ich so noch nie zuvor erlebt hatte. Die Gewalt war roh, die Dialoge pointiert, und der Soundtrack? Eine Offenbarung. Für mich, so sehr, wie für das Weltkino…
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich nach dem Abspann noch wie elektrisiert war – gleichzeitig schockiert und fasziniert von der unbändigen Wucht, mit der Tarantino diese Geschichte erzählte. Heute, fast ein halbes Leben später, schaue ich den Film mit einem anderen Blick. Vieles, was mich damals umgehauen hat, wirkt aber immer noch mit ganz derselben Konsequenz.
Ich meine, der Typ, dieser Tarantino, das hätte ja auch ich sein können. Der Mann brach früh die Schule ab, schlug sich mit Jobs als Kartenabreißer in Kinos und vor allem durch Nachtschichten in Videotheken durch, während ich brav die Schule fertig und erst eine Ausbildung, dann Zivildienst gemacht habe. Während er die Filme seines Lebens frei Haus bekommen hat, durfte ich in Marianne Menzes Kinos lernen, was Filme wirklich können und sind. Wir sind Autodidakten. Er war der Rebell, ich hatte eine bürgerliche Karriere. Er will nur noch einen Film machen, ich hab‘ den Blog. Zweihundert Filme im Jahr schaffe ich auch.
„Ich bin ein Schwamm. Ich sauge alles auf, was ich wahrnehme. Und wenn ich schreibe, fungiert mein Stift wie eine Antenne, die meine Erinnerungen aufnimmt.“
– Quentin Tarantino – ARTE Magazin, 2020
Als „Reservoir Dogs“ 1992* zum Sundance Film Festival Premiere hatte, traf der Film einen Nerv: Das Jahrzehnt begann großartig. Mit einer Welle von Independent-Produktionen, die den Mainstream-Kinos wirklich Konkurrenz machten. Und mitten in diesem Sturm explodierte Tarantino mit dieser Gangstergeschichte, die weniger von einem Coup gehandelt hat, sondern vielmehr die zynische Nachbereitung eines wirklich höllisch schiefgegangenen Überfalls war. So herum hat das, bis dahin, wirklich noch keiner erzählt. Loyalität, Verrat und Gewalt wurden in klaustrophobischer Enge verhandelt – in einem Film, der wie ein Kammerspiel gewirkt und trotzdem vor Energie nur so gestrotzt hat.
Männer, die nicht aufhören zu reden und ein eklektischer Soundtrack: „Stuck in the Middle with You“ (YouTube, Spoiler!) von Stealers Wheel, für immer mit diesem Film verbunden, Szenen von fast unerträglicher Brutalität. Musik als ironischer Kontrapunkt – ein Markenzeichen, das Tarantino später in „Pulp Fiction“ (1994) und „Kill Bill“ (2003) noch perfektioniert hat. Der Soundtrack als eigentständiges erzählerisches Element: Er brach die Erwartungen (und erlernten Klischees) des Publikums und gab den Szenen eine bizarre, fast schon groteske Leichtigkeit und Ironie. Ich hatte sowas, bis dahin, noch nie gesehen.
Die Besetzung war ein Who’s who der damaligen Independent-Szene: Harvey Keitel, Tim Roth, Steve Buscemi, Michael Madsen, Chris Penn, Lawrence Tierney und Edward Bunker. Sie alle gaben ihren Figuren Tiefe und Ambivalenz. Jeder Charakter, ein Farbcode statt eines Namens – ein anonymisierender Kunstgriff, der ihren Mythos noch verstärkt. Tarantino selbst übernahm die kleine, aber einprägsame Rolle von Mr. Brown. Was für ein geniales Casting!
In Sachen Vulgärsprache ist Tarantinos Debütfilm der unangefochtene Spitzenreiter, wie eine detaillierte Datenanalyse seines Werks zeigt. In „Reservoir Dogs“ wird pro Minute im Schnitt viermal geflucht, beleidigt oder geschimpft. Seine späteren Filme kommen meist auf deutlich niedrigere Werte. Nur bei der Zahl der absoluten Flüche liegt „Pulp Fiction“ mit 458 leicht vor „Reservoir Dogs“.
– „Fuck! Fuck! Fuck! No! Aaaaargh…“ – Holger Dambeck, Spiegel, 10.08.2019
Und doch, ja klar: Wenn ich „Reservoir Dogs“ heute, mit fast 60, sehe, stoße auch ich wieder auf Stellen, die mich schlucken lassen. Damals, in meiner jugendlichen Begeisterung, hab‘ ich nicht hinterfragt, wie beiläufig der Regisseur und Autor zutiefst rassistische und sexistische Sprüche eingebaut hat – heute merk‘ ich das und sehe das differenziert. Glaube ich.
„Ich wollte ein Gefühl von Authentizität erschaffen, das direkt aus den Straßen kam. Diese Gangster reden so, wie Gangster eben reden.“
– Quentin Tarantino
Oder:
„In meinen Filmen gibt es keine moralischen Urteile. Ich zeige einfach nur Figuren, wie sie sind.“
– Quentin Tarantino
Ich respektiere das. Tarantino bleibt dabei, dass Kunst nicht politisch korrekt sein muss – sie darf, soll, sie muss auch unbequem sein. Ich muss, was er zeigt, nicht gut finden. Aber gerade darin liegt auch heute noch die Stärke von „Reservoir Dogs“ und eigentlich allen seinen Filmen: Er wirft uns als Publikum einfach rein in eine Welt, die roh, brutal und wirklich schonungslos ehrlich ist. Ich verteidige diesen Film auch heute, mit all den Jahren Abstand: Nicht, weil ich jeden Dialog gutheiße oder seine Gewalt verherrliche, sondern weil „Reservoir Dogs“ genau das tut, was Kunst tun sollte – herausfordern, irritieren, nachdenklich machen – und bestenfalls natürlich unterhalten.
In unserer Gegenwart, in der im Mainstream-Kino wieder alles glattgebügelt und gefiltert ist, in einer Zeit, in der die Streaming-Giganten die Filmkultur gnadenloser denn je kommerzialisieren und den globalen Geschmack zensurkompatibel standardisieren, ist „Reservoir Dogs“ eine Erinnerung daran, dass ein Film auch persönlich, sehr individuell sein und auch weh tun darf. Nur sowas zwingt uns, uns auch selbst zu hinterfragen – und genau das ist es, was Tarantino bis heute zu einem der faszinierendsten Regisseure unserer Zeit macht.
„Ihr zwingt mich so viel zu sprechen, dass ich kaum noch reden kann.“
* „Wilde Hunde“? Wirklich? Wie dämlich darf ein deutscher Filmtitel eigentlich sein?
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 22.06.2025.
Inhaltswarnung: Der Film enthält explizite Darstellungen physischer Gewalt, darunter Folter und Schussverletzungen, sowie wiederholte Verwendung rassistischer, sexistisch konnotierter und queerfeindlicher Sprache. Diese Elemente sind zentral für die Darstellung der Figuren und der Milieus, in denen sie agieren, können aber für Zuschauer:innen belastend oder retraumatisierend sein. Besonders sensible Szenen beinhalten psychischen Terror, Blut und Erniedrigung. Minderjährige oder Menschen, die auf solche Inhalte empfindlich reagieren, sollten sich das nicht ansehen! Mit gutem Grund ist der Film erst ab 18 Jahren freigegeben!
Heist-Movie, Drama, USA, 1993, FSK: ab 18!, Regie: Quentin Tarantino, Drehbuch: Quentin Tarantino, Produktion: Lawrence Bender, Musik: Karyn Rachtman, Kamera: Andrzej Sekuła, Schnitt: Sally Menke, Mit: Harvey Keitel, Michael Madsen, Tim Roth, Steve Buscemi, Chris Penn, Lawrence Tierney, Quentin Tarantino, Edward Bunker, Randy Brooks, Kirk Baltz, Rich Turner, Steven Wright, Lawrence Bender, Fediverse: @filmeundserien
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