Julia von Heinz – „Und morgen die ganze Welt“ (2020)

3.5
(4)
Keine drei Minuten, und schon mittendrin: Antifa-Aktivismus, eine WG voller Diskurse, Zweifel, Gewaltfantasien und Utopien. Julia von Heinz fordert Aufmerksamkeit. Ein deutsches Gegenwartskino, das nicht rückblickt oder Schuld verwaltet, sondern in der Jetztzeit handelt – das ist selten genug. Und dieses „Jetzt“ ist laut, wütend, komplex und unbequem. Was dieser Film riskiert, ist beachtlich!



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Im Zentrum steht Luisa, gespielt von Mala Emde, die als Jurastudentin aus gutbürgerlichem Elternhaus in antifaschistische Strukturen eintritt. Was zunächst wie Orientierungssuche aussieht, wird schnell zum radikalen Selbstversuch. Politische Haltung, aber auch Zugehörigkeit, Sehnsucht und Unbehagen gegenüber der eigenen Herkunft. Die Kamera von Daniela Knapp tastet sich durch Demonstrationen, Neonazi-Aufmärsche, brennende Autos und verschwitzte Kollektivküchen. Alles wirkt dokumentarisch nah und emotional roh. Und genau das ist es, was mich berührt hat: Der Film behauptet nicht, er fragt – durch seine Form, durch seine Figuren.

Wer einfache Antworten erwartet, wird enttäuscht. Der Film stellt nicht die platte Frage nach legitimem oder illegitimem Widerstand, sondern zeigt, wie kompliziert die moralischen Grauzonen sind, in denen sich politische Kämpfe bewegen. Er zeigt, wie der Wunsch nach Klarheit, nach Handlung, nach Konsequenz leicht kippt – ins Autoritäre, ins Dogmatische. Luisa wird ganz und gar nicht glorifiziert, sondern begleitet in ihrem Prozess der Politisierung, der auch gefährlich ist. Ihre Radikalisierung ist nachvollziehbar, aber nicht unkritisch. Dass der Film seine Protagonistin ernst nimmt, ohne sie zu idealisieren, ist eine seiner größten Stärken.

Was mir auffiel: Es ist ein Film ohne romantische Held:innen. Stattdessen begegnet uns ein politisches Milieu, das von Spannungen geprägt ist: zwischen Legalismus und Militanz, zwischen urbaner Coolness und linker Folklore, zwischen Liebe und Ideologie. Und ja, zwischen jungen weißen Linken und migrantischen Realitäten gibt es auch in diesem Film eine Leerstelle – die zwar benannt, aber nicht wirklich aufgelöst wird. Es ist wohl ein Film über die Szene, nicht aus ihr heraus. Das macht ihn angreifbar.

Julia von Heinz, die selbst eine politische Vergangenheit in antifaschistischen Kreisen hat, inszeniert spürbar aus Erfahrung, nicht aus Distanz. Die Widersprüche, die sie zeigt, sind keine dramaturgischen Kniffe, sondern Alltag einer radikalisierten Linken in einem Land, in dem Faschisten wieder in Parlamente einziehen. Die Frage, wie weit Widerstand gehen darf, ist keine rein moralische, sondern auch eine existenzielle. Und dieser Film schreckt nicht davor zurück, sie auch ins Leere laufen zu lassen – ohne Pointe, ohne Auflösung. Das ist unbequem, aber ehrlich.

Mich hat der Film auch auf einer ästhetischen Ebene beeindruckt: Schnitt und Ton sind nervös, fragmentiert, oft überfordernd – und genau deshalb so passend. Nichts hier ist abgeschlossen oder glattgebügelt. Manches ist nicht mal gut gespielt. Es ist ein Film der Gegenwart, einer, der auch formal mit Unruhe antwortet auf die politische Unruhe, die er zeigt.

Dass „Und morgen die ganze Welt“ schon 2020 erschienen ist – mitten in einer Zeit, in der schon, wie heute, rechte Anschläge Deutschland erschütterten, in der Seenotrettung schon kriminalisiert wurde und linke Räume schon unter Druck standen – macht ihn zu einem politischen Dokument. Und gleichzeitig bleibt er Film, Erzählung, Kunst.

Es wäre zu einfach, diesen Film nur für seine Haltung zu loben. Aber es wäre auch zu bequem, ihn für seine Lücken zu kritisieren, ohne anzuerkennen, was er leistet: Er macht ein Milieu sichtbar, das sonst kaum vorkommt im deutschen Kino. Und er gibt einer politischen Erfahrung Raum, die selten erzählbar ist – die des inneren Konflikts, des Abwägens, der allmählichen Radikalisierung aus Empathie und Ohnmacht heraus. Das macht ihn nicht perfekt. Aber notwendig.

Am Ende bin ich dankbar für diesen Film. Nicht, weil ich ihm zustimme. Sondern weil er gar nicht um Zustimmung bittet, sondern zur Auseinandersetzung zwingt. Es ist ein Film, der Haltung zeigt, ohne belehrend zu sein. Ein Film, der ein politisches Wagnis eingeht, das über Symbolik hinausgeht. Und ein Film, nicht brillant, aber mutig – der sich traut, unvollständig zu bleiben – wie die Bewegung, die er zeigt.

Vielleicht ist genau das seine Kraft?

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 27.06.2025.


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Inhaltswarnung: Der Film enthält explizite Darstellungen von politischer Gewalt, darunter rechtsextreme Übergriffe, Polizeigewalt, Bedrohungsszenarien sowie psychischen Druck innerhalb politischer Gruppen. Es werden Szenen von physischer Auseinandersetzung, Angriffen und ideologischer Radikalisierung gezeigt, die retraumatisierend wirken können.



Drama, Deutschland, 2020, FSK: 12, Regie: Julia von Heinz, Drehbuch: Julia von Heinz, John Quester, Produktion: Fabian Gasmia, Julia von Heinz, John Quester, Thomas Jaeger,
Antoine Delahousse, Musik: Matthias Petsche, Rüdiger Eisberg, Neonschwarz, Kamera: Daniela Knapp, Schnitt: Georg Söring, Mit: Mala Emde, Luisa-Céline Gaffron, Noah Saavedra, Tonio Schneider, Andreas Lust, Nadine Sauter, Ivy Lißack, Hussein Eliraqui, Eddie Irle, Frederik Bott, Constanze Weinig, Robert Besta, Victoria Trauttmansdorff, Michael Wittenborn, Fediverse: @filmeundserien@a.gup.pe



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