Philip Barantini – „Boiling Point“ (2021)

Sie können diesen Film als großartiges künstlerisches Experiment sehen. Als formales Abenteuer. Oder als emotionalen Stresstest, in dem Sie selbst in einen kochenden Drucktopf geworfen werden – mitten in die unerbittliche Hitze eines Abends in einem Sterne-Restaurant. Mein Respekt vor den Beschäftigten in der Gastronomie ist danach jedenfalls ins Unermessliche gewachsen. Hoffentlich vergesse ich das nicht!



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Ich habe in meinem Leben eine ganze Reihe von Jobs gehabt. Von prekär bis (sehr) gut bezahlt. Ich bin fast überall klargekommen. Aber in der Gastronomie hätte ich nie überleben können. Und da mache ich jetzt einfach mal gar keinen Unterschied zwischen Szenekneipe und Michelin-Sterneküche. Das ist eine Generalisierung, die nur dem Argument dient. Und meinem Respekt vor den Menschen, die mich als Gast akzeptieren und bedienen.

„Yes, Chef!“ (2021) war der eingedeutschte Titel dieses Films, als er in die Kinos kam. „Siedepunkt“ klang dem Verleih vermutlich zu sehr nach Naturwissenschaft (Physik!), als nach Kino. Und im Grunde war das gar keine schlechte Wahl. Denn jenseits von Militär und Polizei gibt es wohl nur wenige hierarchischer organisierte Berufe, als die Gastronomie. Und je größer der Betrieb, desto schlimmer, wahrscheinlich.

Es ist vermutlich die Lehre aus Jahrhunderten an gelebter Praxis. Anders kann ich mir das nicht erklären. Ich kann es aber beobachten. Und versuchen zu entschlüsseln, was eine Küche funktionieren lässt. Hier ist die Kamera nicht nur Beobachter, sondern ein Teil des organisierten Chaos. Sie verfolgt jede Bewegung, jeden Schrei, jeden erschöpften Blick. Schafft eine Nähe, die den Stress, das Adrenalin und das Ausgelaugtsein förmlich spürbar macht. Wir atmen den gleichen stickigen Dampf, fühlen die Hitze auf der Haut, spüren den Atem der Menschen, die fast alle ständig am Rand des Zusammenbruchs balancieren.

Im Zentrum steht Andy (fantastisch: Stephen Graham), der Chefkoch, der durch einen Abend manövriert, der ihm und seinem Team buchstäblich alles abverlangt. Es geht nicht nur ums Kochen, sondern um den Kampf mit sich selbst in einem System, das absolut keine Schwäche zulässt. Die Figuren agieren in einem Mikrokosmos aus Druck, Hierarchie und Einsamkeit – jeder Schritt, jeder Handgriff ist eine Gratwanderung zwischen Kontrolle und Kollaps. Die Auseinandersetzungen, die hier stattfinden, sind mehr als berufliche Spannungen, sie offenbaren die Zerbrechlichkeit von Menschen in einem kapitalistischen Arbeitsalltag, der alles auf Kosten der eigenen Grenzen fordert.

Wir erleben die Wut, die Hilflosigkeit, den Kampf um Respekt und Selbstwert, der hier nicht mit Helden:innengeschichten verklärt wird, sondern in der rohen und drastischen Realität stattfindet. Die Kamera zwingt zur Non-Stop-Konfrontation, One-Shot, keine Möglichkeit, sich zu entziehen, keine Erleichterung durch Schnitte oder Zeitlupen – Echtzeit, und das mit atemloser Intensität.

Dieser Film ist ein klares, formell überragendes und inhaltlich schonungsloses Statement über Gewalt im Arbeitsalltag, die für Normalkund:innen fast immer unsichtbar bleibt. Am Ende steht nicht die Spur einer moralischen Erlösung. Der Film ist, was er zeigt: purer Stress. Und es gibt absolut keine Möglichkeit, dem zu entkommen. Keine Form von Heilung. Der Film ist so kompromisslos wie die Figuren, die in diesem Mikrokosmos um Anerkennung, Respekt und ihr Leben kämpfen.

Unglaublich aufregend!

Solidarität!

PS.: Es gab im Anschluss an den Film bei der BBC auch eine Fortsetzung als Mini-Serie. Die würde ich nun wirklich gerne auch öffentlich-rechtlich einmal (in Deutsch) sehen.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 12.07.2025.


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Der Film enthält extrem intensive Darstellungen von psychischem Stress, emotionaler Überforderung und zwischenmenschlichen Konflikten in einem hochgradig belastenden Arbeitsumfeld. Szenen mit verbaler Aggression, Drucksituationen und persönlichen Krisen können für Zuschauer:innen mit ähnlichen Erfahrungen belastend sein.



Drama, Deutsch/Englisch, UK, 2021, FSK: ab 16, Regie: Philip Barantini, Drehbuch: Philip Barantini, James Cummings, Produktion: James Cummings, Philip Barantini, Musik: Ciaran Yvonne, Kamera: Philip Barantini, Schnitt: Philip Barantini, Mit: Stephen Graham, Vinette Robinson, Alice Feetham, Hannah Walters, Fediverse: @filmeundserien



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