Wenn ich von der Grenze des nördlichen Ruhrgebiets, bzw. des südlichen Münsterlandes auf Berlin schaue, dann verstehe ich wirklich nicht mehr viel von dem was ich sehe. Früher war das anders. Also bis 1989. Da war es zwar auch ein Mikrokosmos völlig jenseits meiner Realität, aber den hab‘ ich damals kapiert.
Heute ist Berlin eigentlich normal. Also gewissermaßen wie Köln. (Sorry, liebe Kölner:innen!) Nur hält sich die Stadt in den Sümpfen Brandenburgs für den Nabel der Welt… oder wenigstens unserer kleinen Republik, während sie dem Rest des Landes weitestgehend egal ist.
Was aber tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal Berlins ist, das ist gleich ein eigenes Genre: Der moderne Berlin-Film. Eigentlich erfunden von Billy Wilder im Jahr 1961, hat er sich in den 60 Jahren seither immer wieder erneuert.
Nicht neu, war die Idee einen Blog zu verfilmen. Helene Hagemann fällt mir da ein, die zwar ihren eigenen Roman in Szene gesetzt hat, der aber wiederum zu signifikanten Teilen auf einem Buch eines anderen beruhte, der dieses Buch wiederum aus dem eigenen Blog extrahiert hat. Weil das aber schon so viele Verarbeitungsstufen von Inhaltsfragmenten beschreibt, lass ich den Film einfach für sich stehen. Der lohnt sich sowieso in erster Line für Jasna Fritzi Bauer… und ist natürlich ebenfalls ein „Berlin-Film“.
Wo wir Frau Hagemann durchaus „Literatur“ unterstellen können, ist das bei Mariejosephin Schneider scheinbar schwieriger zu entscheiden. Für mich allerdings ist die Schöpfungshöhe in ihrem ganz zauberhaften Film „Notes of Berlin“ gleich nochmal um einige Stufen höher. Denn jeder der „Zettel“ die Joab Nist über Jahre auf den Straßen Berlins fotografisch eingesammelt und in seinem gleichnamigen Blog gepostet hat, erzählen so viele einzigartige Geschichten – auf die Idee diese zu verfilmen, musste Frau wirklich erst mal kommen. Das ist tatsächlich „Literatur“, die auf der Straße lag.
For one minute
Please,
just stand here
in silence
and look
at the sky
and contemplate
how
amazing
life is.
Ich feiere den Film ganz absurd. Denn die künstlerische Qualität vor und hinter der Kamera, die Umsetzung der Idee und die Vielfalt und Verwobenheit der Geschichten… das ist wirklich groß! Nehmen wir noch die Tatsache, dass neben der großartigen „Altprofessionellen“ Andrea Sawatzki und einigen Kolleg:innen auch ein riesiger Cast, ebenso wie die Geschichten, direkt von den Straßen der Stadt eingesammelt wurde… Gesichter, die wir noch nie gesehen haben und vielleicht nie wieder sehen werden… dann ist das mal tatsächlich ein wirklich zeithistorisches Dokument aus der Hauptstadt und ein großer Berlin-Film, an den wir uns erinnern sollten.
Und wenn sie jetzt an jeder Laterne und jedem Baum in ihrer Nachbarschaft stehen bleiben um all die Zettel zu lesen, dann wünsche ich viel Phantasie! 😉
„Notes of Berlin“ – in der ARD Mediathek bis 18.12.2023
Episodenfilm, Deutschland, 2020
FSK: ab 12
Regie: Mariejosephin Schneider
Drehbuch: Mariejosephin Schneider, Thomas Gerhold
Produktion: Martin Danisch, Clemens Köstlin, Andreas Louis, Gregor Sauter
Musik: Rafael Triebel, Fabian Saul
Kamera: Carmen Treichl
Schnitt: Inge Schneider
Mit: Andrea Sawatzki, Paul Boche, Yeliz Simsek, Katja Sallay, Taneshia Abt, Jale Arıkan, Maximilian Gehrlinger, Tom Lass, Maria Mägdefrau, Frederik von Lüttichau, Marko Dyrlich, Leopold Altenburg, Anne Müller, Stephanie Stremler, Joe Hatchiban, Lisa Moell, Mex Schlüpfer, Axel Werner, Alexander Martschewski, Gernot Kunert, und viele andere…
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