Ein „Frauenfilm“ ist das hier nicht. Zwei Männer, eng befreundet, beschließen einen Film zu machen. Sie schreiben das Buch gemeinsam, führen gemeinsam Regie und spielen auch noch beide Hauptrollen. Und warum machen sie das? Um eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte ihrer Freundschaft. Das wäre eine sehr kurze Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte dieses leichtfüßigen und zutiefst philosophischen Buddy-Roadmovies.
Alexandre Jollien ist vermutlich der einzige Philosoph (u. a. Universität Freiburg) in der Geschichte, der mit einer Cerebralparese geboren wurde. Er ist also – allgemeinsprachlich – „schwerbehindert“. Da ist seine Perspektive auf das Leben eine andere, als meine. Vermutlich als die von den allermeisten, die diese kleine Filmkritik lesen werden. Und weil ich, wie sie, auch kein einziges seiner Bücher gelesen habe, schon alleine deshalb konnte ich hier etwas lernen. Mit Freude!
Louis (Bernard Campan), Bestatter, trifft durch einen Verkehrsunfall auf Igor, einen behinderten Mann (Jollien). Gemeinsam gehen die zwei in einem Leichenwagen mit den sterblichen Überresten einer alten Dame auf einen Roadtrip nach Marseille. Das ist schon die Geschichte. Also, wenn wir nur den Beginn und das Ende betrachten. Das entscheidende, wertvolle, ist das, was zwischendurch passiert. Das ist wie mit den Jahreszahlen auf einem Grabstein. Der Bindestrich zwischen dem Geburtstag und dem Todestag ist das tatsächlich einzig wichtige. Denn der symbolisiert das Leben.
Campan und Jollien sind seit Jahrzehnten befreundet. Das macht diesen Film so wertvoll. Weil er, trotz ausgedachter Geschichte, von Anfang bis zum Ende authentisch ist. Ihre Kunst in diesem besonderen Film, ihrem Film, war, eine Buddy-Komödie zu einem Vehikel für das Grundverständnis der Philosophie – und vor allem, des Lebens – Jolliens zu machen.
Mit seinen charmanten und witzigen Szenen greift der Film aber auch wichtige Themen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderung auf. Darunter Emanzipation von den Eltern, Selbstbild und Sexualität oder der Umgang mit den Vorurteilen und Unsicherheiten anderer Menschen. Igor und Louis kommen zu dem Schluss: „Was die anderen denken, ist mir scheißegal!“
(Nico Stockheim, WIR-Magazin, 24.05.2022)
„Ein metaphysisches Experiment sich im Sterben zu üben“, das wirklich Spaß glücklich macht. Ganz nah dran, sowohl an den Buddy– wie an den klassischen Roadmovies, doch wahrhaftiger, einzigartiger, als sie alle zusammen.
Ein großes Plädoyer Jolliens und Campans, nicht nur an die Kinowelt, ist es auch, Menschen, die wir unter dem Etikett „behindert“ in der Regel kaum als Künstler:innen wahrnehmen, auch als Autor:innen, Regisseur:innen und Schauspieler:innen in das Zentrum von Geschichten und Filmen zu stellen – wenn Kino denn ein wahrhaftiges Abbild unseres Lebens sein soll. Wäre nicht erst das tatsächlich Inklusion?
Ich habe wirklich lange keinen Film mehr gesehen, der mich so glücklich gemacht hat.
9,5
Roadmovie, Schweiz, 2022, FSK: ab 6, Regie: Alexandre Jollien, Bernard Campan, Buch: Alexandre Jollien, Bernard Campan, Helene Gremillon, Produktion: Philippe Godeau, Kamera: Christophe Offenstein, Schnitt: Annette Dutertre, Musik: Niklas Paschburg, Mit: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Tiphaine Daviot, Julie-Anne Roth, La Castou, Marilyne Canto, Anne-Valérie Payet
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