100 Jahre ist Frank Kafka tot. Keine Frage, dass sein Leben und literarisches Werk wohl auch noch für das nächste Jahrhundert genug Stoff und Inspiration für neue Interpretationen liefern wird. Grund genug, für die ARD auch diesen Film von Jochen Alexander Freydank wieder in das Programm zu nehmen. Vor allem für Axel-Prahl-Fans unter den Kafka-Nerds ein Fest.
Ganz ehrlich, ich habe mir wirklich schwergetan, über die 110 Minuten dieses Films konzentriert und wach zu bleiben. Es ist definitiv nichts für nebenher. Vermutlich ganz wie die literarische Vorlage, die ich allerdings nie gelesen habe. Eigentlich war ich meinen zahlreichen Deutschlehrer:innen bis zum Abitur immer dankbar dafür. Heute, gerade auch wg. Kafka-Jahr, wünschte ich mir durchaus, von ihm etwas mehr aufgesammelt zu haben, als nur Gregor Samsas „Verwandlung“.
Die Prämisse des Filmes hat mich zuerst mal an eine ganz andere, aktuelle Dystopie erinnert. Natalia Sinelnikovas Debüt „Wir könnten genauso gut tot sein“ (2022) beginnt eigentlich erstmal ganz ähnlich. Doch während die Eskalation und die Auflösung bei ihr in der Flucht aus der Festung der Paranoia endet, eskaliert Jochen Alexander Freydanks Film „Kafkas Der Bau“ in der Psyche seines Protagonisten. Ob das, was er beobachtet und was wir sehen, nun real stattfindet oder nur in seinem Wahn, vermag ich nicht zu entschlüsseln.
„Wahnhaft“ ist eine Tonlage, die Everybody’s-Tatort-Darling Axel Prahl tatsächlich viel zu selten spielen darf. Und nur durch ihn wird der Film für mich zum Ereignis.
Bei allem bewunderungswürdigen Investment, das Autor und Regisseur Freydank hier offensichtlich in die über-perfektionistische Bildkomposition eines architektonischen Alptraums getätigt hat, es ist der Schauspieler alleine, der vor dieser kalten Kulisse einen Anlass bietet, sich überhaupt dafür (für ihn) zu interessieren.
Die Architektur kennen wir eigentlich. Laufen Sie mal bei Nacht und schlechtem Wetter durch die Hafencity in Hamburg, da bekommen sie die Paranoia quasi umsonst dazu. Da wäre auch ein moderner Kafka wohl adäquat untergebracht… was in Axel Prahls „Franz“ Erleben dann daraus wird, nun gut, es sieht aus, wie eine Dystopie. Doch wer kann das noch von der Wirklichkeit unterscheiden?
Eigentlich geht’s darum auch gar nicht. Denn wenn wir alle etwa „Franz“ sind, dann geht es plötzlich nicht mehr um ein individuelles Schicksal, sondern eine Gesellschaft, ein Land, einen Kontinent oder gleich die Hälfte des Planeten. Ist ihr Kopf immer aufgeräumt genug? Haben wir alle das Zeug, unsere ganz individuelle Paranoia im Zaum zu halten? Habe ich das?
Ganz klar war es ein Fest für Prahl, einmal aus seinem überaus erfolgreichen, aber sich doch irgendwann immer wieder wiederholenden Standardrepertoire in den ÖRR Programmen ausbrechen zu dürfen. Er hat sich wirklich in diese besondere Rolle hineingeworfen. Ja, er degeneriert quasi vor unseren Augen zu einer Version von sich selbst, mit welcher er wohl viele seiner Fans hätte verstören können – hätten diese diesen absoluten Nischenfilm denn überhaupt gesehen.
Doch das Risiko, das öffentlich-rechtliche Publikum zu verstören, ist auch im Kafka Jahr nicht wirklich groß. Dafür sorgt schon die Ausstrahlung im dritten Programm (SR) weit nach Mitternacht.
(M)Ein potenzieller Lieblingsfilm ist das hier ganz sicher nicht. Doch eine Mediathekperle ist er ganz ohne Frage. Aus den aufgeführten Gründen. Und vor allem aus ihren ganz eigenen. Und wenn sie zufällig einen Deutsch-Leistungskurs unterrichten, dann wäre das vielleicht sogar eine Belohnung!
Sowas ist selten!
Dieser Beitrag erschien zuerst am 15.05.2024.
Dystopie, Deutschland, 2014, FSK: ab 12, Regie: Jochen Alexander Freydank, Drehbuch: Jochen Alexander Freydank, Produktion: Jochen Alexander Freydank, Musik: Rainer Oleak, Kamera: Egon Werdin, Schnitt: Philipp Schmitt, Mit: Axel Prahl, Josef Hader, Roeland Wiesnekker, Kristina Klebe, Devid Striesow, Robert Stadlober, Fritz Roth, Claudia Hübschmann, Erwin Leder, Torsten Michaelis
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