Es ist immer schwer zu sagen, welcher Film denn womöglich „der beste“ ist, im Gesamtwerk eine:r Regisseur:in. Zumal, wenn es nur so wenige davon gibt, wie von Hans Weingartner. Lieben kann ich alle, für das, was sie sind. Doch dieser hier, hat mich besonders herausgefordert, gepackt, irritiert und beschenkt.
Mathematik und Physik sind Wissenschaften der absoluten Gesetze. Zahlen und Formeln definieren unsere Wirklichkeit und durchdringen auch die letzten Rätsel des Universums. Diese zu verstehen, bedeutet totale Kontrolle der Welt, wie wir sie kennen. Vollkommen anders dagegen, die menschliche Psyche.
Hans Weingartner kennt sich in beiden Welten sehr gut aus, vor allem sind es aber die Menschen, die ihn interessieren. Und davon jene, die in unserer Realität am Rande stehen und jederzeit herausfallen können.
Die Geschichte eines Mathegenies und Sonderlings, der in der Psychiatrie landet und erst nach langer Leidensgeschichte und Therapie schließlich Jahrzehnte später einen Nobel-Preis gewinnt, haben wir noch gut in Erinnerung. Ron Howard und Russell Crowe haben John Forbes Nash Jr., in „A Beautiful Mind“ (2001) ein mit vier Oscars gekröntes Denkmal gesetzt.
Eine tolle Geschichte, ein toller Film. Vermutlich hat er auch allen seinen Ruhm verdient. Doch mal ganz ehrlich, haben Sie sich darin selbst wiederfinden können? Oder haben Sie den Film nur „von außen“ bewundert, für seine dramatische und inszenatorische Perfektion?
Hans Weingartners neuestes Werk reiht sich ein in sein bisheriges Oeuvre, wieder stellt er unsere soziale und gesellschaftliche Grundordnung in Frage. Diesmal kritisiert er subtil die moderne Psychatrie und den Umgang der Gesellschaft mit Jemandem, der sich nicht der Norm entsprechend verhält und den vorgesehenen gesellschaftlichen Regelmaßnahmen entzieht. (…)
Die große Stärke des Films liegt in den vielen Wahrheitsoptionen, ohne dabei beliebig zu werden. Weingartner zwingt den Zuschauer nicht in eine bestimmte Richtung, sondern lässt ihn die Optionen und Interpretationen sich selbst erarbeiten. Dass er dabei mit dem Mittel des „inneren Kindes“ auf eine psychiatrische Behandlungsmethode zurück greift, zeichnet beispielhaft die Gewissenhaftigkeit der Recherche des Regisseurs aus, überhaupt eines der Markenzeichen von Weingartner.
Jury-Begründung der FBW-Filmbewertung („Besonders wertvoll“)
Weingartner ist kein Ron Howard. In der Traumfabrik Hollywood hätten seine Filme wohl kaum eine Chance. Und sein Hauptdarsteller, Peter Schneider, ist glücklicherweise, auch kein Russel Crowe. (Obwohl ich ihm jederzeit auch eine Rolle als Gladiator zutrauen würde, bin ich doch wirklich froh, dass er heute zusammen mit Peter Kurth einen Beitrag dazu leisten kann, dem deutschen Krimi am Sonntagabend immer und immer wieder doch noch eine neue Chance zu geben…).
„Die Summer meiner einzelnen Teile“ spielt in einer ganz anderen Realität. Eine, die uns allen näher ist, als viele von uns wahrhaben wollen. So ist es auch wirklich kein Film, für den Sie Snacks und kalte Getränke bereitstellen sollten. Seine Absicht ist es nicht, uns zu unterhalten. Im Gegenteil. Weingartner will uns irritieren, faszinieren, agitieren. Zuvorderst verlangt er von uns Solidarität. Er verlangt eine Position einzunehmen, uns zu hinterfragen, und am Ende des Films, unsere Position möglicherweise und bestenfalls zu verändern.
(…) Es mag müßig sein, einem Weingartner-Film seine Weingartnerismen vorzuwerfen. Zumal Filmemacher mit einer unbeirrbaren politischen Haltung hierzulande nicht gerade in der Überzahl sind. Und bei allen Einwänden kann Die Summe meiner einzelnen Teile auch einen der magic moments des Kinojahrs für sich verbuchen: wenn nachts vor der Hütte plötzlich fast lautlos ein Wolf auftaucht und im stillen Blickwechsel mit Martin ein Gefühl der Gefahr und des Einklangs nebeneinander schweben.
„Die Summe…“ ist ein wunderbarer Film, weil er auf Seiten „der Verrückten“ steht. Und einen Gegenentwurf für unser konventionelles „Glück“ entwirft. Weingartner nimmt nicht nur unser System der psychischen Gesundheitsversorgung auseinander, er tritt auch dem Kapitalismus heftig vor das Schienbein und hält uns – den tatsächlich Verrückten im Hamsterrad unserer ökonomischen Selbstverwertung – einen Spiegel vor.
Kurz vor Weihnachten 2024 lief hier Terry Gilliams „Brazil“ (1985) durch den Blog. Bis heute, der meistgelesene Beitrag in den Mediathekperlen überhaupt. Die Wälder um Berlin sind wirklich alles andere als Brasilien. Doch für mich hat Martin Blunt tatsächlich mit Sam Lowry viel mehr gemein, als ihm in „Die Summe…“ anzusehen ist.
Ich gehe jetzt in den Wald. Freiheit atmen.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 14.01.2024.
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Drama, Deutschland, 2011, FSK: ab 12, Regie: Hans Weingartner, Drehbuch: Hans Weingartner, Cüneyt Kaya, Produktion: Jonas Dornbach, Hans Weingartner, Musik: Björn Wiese, Kamera: Henner Besuch, Schnitt: Dirk Oetelshoven, Andreas Wodraschke, Mit: Peter Schneider, Henrike von Kuick, Timur Massold, Andreas Leupold, Julia Jentsch, Eleonore Weisgerber, Robert Schupp, Hans Brückner, Marco Noack, Lisa Tomaschewsky, Fediverse: @filmeundserien
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