Trauen Sie der Geschichte nicht eine Sekunde. Konzentrieren Sie sich auf die Kleinigkeiten. Warten Sie mit ihrem Urteil über „Gut und Böse“! Wenn Sie dazu nicht bereit sind, dann schauen Sie diesen Film besser nicht. Wenn Sie sich aber darauf einlassen, dann belohnen Sie sich selbst.
Um den Elefanten im Raum gleich anzusprechen, der Hauptdarsteller dieses Films stand zum Zeitpunkt seiner Entstehung gerade vor seinem Durchbruch zum Weltstar. Damals konnten wir nicht ahnen, dass ihm einige Jahre später einmal sexuelle Übergriffe auf Kollegen und Mitarbeiter zur Last gelegt werden würden. In den folgenden Prozessen vor Gericht wurde Kevin Spacey von allen Vorwürfen freigesprochen und juristisch rehabilitiert.
Das geht mir natürlich durch den Kopf, wenn ich im Begriff bin, einen 30 Jahre alten Film zu feiern, in denen ausgerechnet Spacey die zentrale Figur spielt. Und über die Mechanismen von (zu) schnellen Urteilen im Shitstorm der digitalisieren öffentlichen Meinung hier noch einmal zu reflektieren, hätte an dieser Stelle aber wohl nicht den richtigen Platz.
Im Grunde können wir den Film ja auch für das feiern, was er zu seiner Zeit mit uns gemacht hat. Und darin war er, nach langer Zeit und für eine ebensolche, in seinem Genre ziemlich einzigartig.* Denn sein Drehbuch will uns in die Irre führen, oder hinter das Licht, ganz wie Sie wollen. Und es gelingt ihm so verblüffend gut, dass es sich wirklich lohnt, den Film noch einmal zu sehen, auch wenn wir lange wissen, wie die Geschichte ausgeht.
Der Film der harten Männer soll tot sein? Von wegen. Dieser Action-Thriller nach bewährten Mustern kommt mit einer einzigen blassen Frau aus, in einer Nebenrolle: Fünf Gangster aus allen Branchen verbünden sich im Kittchen zu neuen Taten, und als sie begreifen, daß sie nur Werkzeuge eines übermächtigen Drahtziehers waren, ist es zu spät. Auch der Zuschauer hat da schon vergessen, wie wenig plausibel die Drogen- und Killerstory letztlich ist – so gekonnt, mit viel Sinn für Lichteffekte und Genre-Atmosphäre hat Regisseur Bryan Singer seine feurige Ballade über die alte Weisheit inszeniert, daß am Ende der durchkommt, der am längsten bluffen kann.
Ich habe den Regisseur damals wirklich bewundert. Zwei Oscars (bestes Drehbuch für Christopher McQuarrie & bester Nebendarsteller für Kevin Spacey) nimmt ein Newcomer nicht jedes Jahr nach Hause. Und, so wie sein Werk sich seitdem vor allem in Marvels X-Men Universum fortentwickelt hat, ist „The Usual Suspects“ auch bis heute sein einziger Thriller geblieben. Das bedaure ich sehr. Denn er hat(te) offensichtlich ein großes Talent für das Genre.
Einen Cast wie diesen sehen wir auch nicht jeden Tag: Ex-Mafiosi Chazz Palminteri, eigentlich ein Vorbild des späteren Tony Soprano, hier aber auf der Seite des Gesetzes, der spätere Breaking Bad Meth-Baron und Vought CEO, Giancarlo Esposito, als junger FBI Agent, der ebenso junge Benicio del Toro, der sich genau hier, neben Spacey ebenfalls in die erste Reihe des Filmgeschäfts gespielt hat, Stephen Baldwin, Gabriel Byrne, eine Besetzung, wie aus einem Traum, für vermutlich jede:n Regisseur:in.
Für mich ist der Film noch immer ein großer Genuss. Für Filmstudent:innen ein Muss, und für Sie, wenn Sie zum Krimi neigen – und ihn noch nicht gesehen haben – vielleicht ein anregender Gewinn.
Die Tragödie und das Geschenk dabei ist ja, dass wir, wenn wir einmal erst um die Kunst des unzuverlässigen Erzählens wissen, keinem anderen Krimi mehr trauen können oder wollen, im Bewusstsein dessen, dass er möglicherweise schlauer ist, als wir.
Außer beim Tatort selbstverständlich. Für den gelten ganz eigene Regeln.
* „Lucky Number Slevin“ (2006) kommt mir noch in den Sinn. Im ZDF nur noch 2 Tage in der Mediathek.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.02.2025.
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Thriller, USA, 1995, FSK: ab 16, Regie: Bryan Singer, Drehbuch: Christopher McQuarrie, Produktion: Michael McDonnell, Bryan Singer, Musik: John Ottman, Kamera: Newton Thomas Sigel, Schnitt: John Ottman, Mit: Kevin Spacey, Kevin Pollak, Benicio del Toro, Stephen Baldwin, Chazz Palminteri, Gabriel Byrne, Pete Postlethwaite, Giancarlo Esposito, Suzy Amis, Dan Hedaya, Michelle Clunie, Peter Greene, Christopher McQuarrie, Fediverse: @filmeundserien
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