Manchmal stoße ich in der Mediathek auf einen Film, den ich zuerst gar nicht anklicken wollte. Das Cover zu jung, der Titel zu artifiziell, der Plot zu weit weg vom eigenen Leben. „Dead Girls Dancing“ war so ein Fall für mich. Und ich bin sehr froh, dass ich meine Vorurteile für 89 Minuten ausgeschaltet habe.
Dieses Debüt von Anna Roller, Absolventin der HFF München, ist ein kleines Wunder. Kein lautes, blendendes – sondern eines, das leise unter die Haut kriecht. Es geht um junge Frauen auf einer Reise. Es gibt ein Auto, eine Karte, Musik, Sommerlicht, Gespräche im Halbschatten. So weit, so vertraut. Doch was „Dead Girls Dancing“ (2023) daraus macht, ist bemerkenswert.
Ich selbst habe keine Töchter, aber ich bin alt genug geworden, um inzwischen zu wissen, dass wir Männer oft nur eine sehr ungefähre (und oft leider ziemlich falsche) Vorstellung davon haben, wie weibliches Erwachsenwerden wirklich aussieht – jenseits der Klischees und Kino-Formate, die wir über Jahrzehnte zu sehen gewohnt waren. Dieser Film hilft. Er lässt spüren, was es heißt, heute als junge Frau durch eine Welt zu gehen, die Erwartungen hat, Rollen vorgibt, Identitäten einfordert – und doch kaum echte Räume zur Selbstwerdung bietet.
Roller erzählt das nicht mit pädagogischem Zeigefinger oder feministischer Theorie, sondern mit einem präzisen Blick für Zwischentöne: Blicke, Berührungen, Verstimmungen, wortlose Revolten. Es ist ein Film über Orientierung und Reibung. Über die Fragilität von Freundschaft. Und über den Moment, in dem eine:r spürt, dass eine Gruppe nicht mehr trägt – und eine:r mit sich selbst allein dasteht.
Mitunter knirscht es zwar etwas in der Dramaturgie, weil die Improvisation so mancher Szene nicht immer ausreichend überzeugende Ergebnisse zeitigt. Doch der schließliche Umschlag der Perspektive vom eigenen Nabel als Mittelpunkt der Welt zu einer Welt, die weitaus größere Sorgen hat als die Befindlichkeiten eben dieses Nabels, ist von grausam-ernüchternder Treffsicherheit. Die jugendliche Exaltiertheit wird einem unsentimentalen Realitätscheck unterworfen, die träumenden Augen werden geöffnet und der Prozess des Erwachsenwerdens kann beginnen. Diesen Schockmoment in seiner ganzen Tragweite eingefangen zu haben, zeichnet Rollers Debüt aus.
– Alexandra Seitz, EPD-Film, 27.10.2023
Es gibt in „Dead Girls Dancing“ keine klassische Story, keine Bösewichte, keine überinszenierten Konflikte. Und keine Antworten. Das macht den Film nicht leichter konsumierbar – aber umso ehrlicher. Und darum vielleicht auch so unbequem. Wer sich einen dramatischen Plot wünscht oder eine genretypische Entwicklung, wird hier vermutlich sehr schnell ungeduldig. Wer sich aber einlassen kann auf das, was zwischen den Bildern passiert, wird auch etwas zurückbekommen.
Formal ist das alles extrem stimmig: Die Kamera bleibt nahe an den Figuren, ohne aufdringlich zu sein. Die Musik trägt, ohne zu manipulieren. Und die Schauplätze – allen voran ein verlassenes italienisches Dorf – wirken wie ein Echo der inneren Zustände: schön, leer, uneindeutig.
„Dead Girls Dancing“ ist kein Film, der sich anbiedert. Ganz im Gegenteil. Er ist ganz schön sperrig und wenig unterhaltsam. Aber gerade deshalb lohnt es sich, ihn zu entdecken – besonders für jene, die glauben, sie hätten mit „jungen Frauenthemen“ nichts zu tun. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich immer wieder dachte: So wenig weißt du eigentlich. Das ist vielleicht die wertvollste Erfahrung, die ein Film einem Zuschauer wie mir schenken kann.
Würde ich den Film weiterempfehlen? Ja, unbedingt – aber wirklich nicht allen. Nur denen, die bereit sind, sich irritieren zu lassen. Die neugierig geblieben sind. Und die sich nicht schämen, wenn ein Film ihnen zeigt, dass sie trotz ihrer Lebenserfahrung eben doch noch nicht alles verstanden haben – oder wissen.
Sie müssen das aushalten wollen.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 28.05.2025.
Coming-Of-Age, Roadmovie, Deutschland, 2023, FSK: ab 12, Regie: Anna Roller, Drehbuch: Anna Roller, Musik: Giovanni Berg, Kamera: Felix Pflieger, Schnitt: Mila Zhlutenko, Mit: Katharina Stark, Sara Giannelli, Luna Jordan, Noemi Liv Nicolaisen, Cesare Ceccolongo, Ugo Luly, Carolin Conrad, Wiebke Puls, Pirkko Peltonen, Fediverse: @filmeundserien
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