Ein altes Pariser Mietshaus. Darin: Camille, die fast verhungert, weil sie sich dem Leben verweigert. Philibert, ein adliger Sonderling. Franck, ein wütender Koch. Und Paulette, seine Großmutter. Vier Existenzen, die sich verheddern, vorsichtig, tastend, schüchtern – und so intensiv, dass sich Claude Berris zärtlicher Film über Einsamkeit, Fürsorge und widerständige Nähe am Ende wie eine Umarmung anfühlt.
Claude Berri, der große französische Chronist ländlicher Armut und bürgerlicher Neurosen, inszeniert hier sein vorletztes Werk mit einem Gespür für die Zwischentöne des Zusammenlebens. Die Vorlage stammt von Anna Gavalda, deren gleichnamiger Roman in Frankreich Kultstatus genießt. Berri reduzierte das Melodrama, verschlankte die Handlung und schenkte seinen Figuren so einen eigenen Raum zur Entfaltung.
Audrey Tautou spielt die Camille als verletzliche, fast ätherische Erscheinung, die dennoch Widerstand leistet – gegen Mitleid, gegen Fürsorge, gegen Nähe. Guillaume Canet, damals das Gesicht des französischen Mainstreams, gibt Franck eine überraschende Tiefe: Der aggressive Macho wird zum heimlichen Care-Arbeiter. Auch Laurent Stocker hat eine fragile Komik, die nicht ins Lächerliche kippt.
Was mich beim Sehen getroffen hat, war keine große Emotion, sondern ein leises, langsames Aufweichen. Ich habe den Film erst gar nicht „geliebt“ – ich musste mich zuerst mit ihm einlassen. Denn er hat mich erinnert an das Gefühl von früher, in irgendeiner WG-Küche zu sitzen, wo jemand weint, jemand Tee macht und jemand anderes schweigt, weil Worte gerade gar nicht helfen. Ich habe mich wiedererkannt in dieser Mischung aus Scham und Sehnsucht, die Camille mit sich trägt. In der Wut, die Franck schützt wie einen Schild. Und in Philiberts unbeholfenem Mut, einfach dazubleiben, wenn andere längst gegangen wären.
Ich habe mitgenommen, dass Fürsorge nicht sanft sein muss, um radikal zu sein. Dass Nähe nicht im Pathos entsteht, sondern im Alltag: Essen machen, putzen, zuhören, aushalten. Dass Solidarität oft aus Not entsteht – und trotzdem eine Wahl bleibt. Der Film zeigt, wie existenziell es ist, gesehen zu werden, ohne gerettet werden zu müssen. Und wie politisch es ist, füreinander zu kochen, zu pflegen, Räume zu teilen – in einer Welt, die Vereinzelung mit Freiheit verwechselt.
Was diesen Film so stark macht, ist sein Vertrauen in die kleinen Gesten. Er braucht keine Erklärungen, keine Tragödien. Es reicht, dass jemand ein altes Bild aufhängt, dass jemand anderes zum ersten Mal ohne Scham spricht, dass das Essen gemeinsam eingenommen wird. In der Kollektivität dieser zögerlichen, improvisierten Gemeinschaft liegt eine zärtliche Solidarität, die sich gegen jede neoliberale Logik stellt.
Und auch weil Berri wirklich nichts idealisiert – Armut bleibt Armut, Einsamkeit reißt wieder auf – gibt er seinen Figuren das Recht, mehr zu sein als ihre sozialen Bedingungen. Und mir macht er Lebensmut.
Das ist vermutlich doch das Schönste, was ein Film überhaupt leisten kann.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 12.07.2025.
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Der Film enthält Szenen, die emotionale Vernachlässigung, Einsamkeit und Essstörungen thematisieren. Menschen mit entsprechenden Erfahrungen könnten sich an bestimmten Stellen getriggert fühlen – insbesondere in den frühen Szenen, in denen Camille isoliert und verwahrlost dargestellt wird.
Sozialdrama, Frankreich, 2007, FSK 0, Regie: Claude Berri, Drehbuch: Claude Berri, Jérôme Tonnerre, nach dem Roman von Anna Gavalda, Produktion: Claude Berri, Nathalie Rheims, Musik: Frédéric Botton, Kamera: Agnès Godard, Schnitt: François Gédigier, Mit: Audrey Tautou, Guillaume Canet, Laurent Stocker, Françoise Bertin, Firmine Richard, Juliette Arnaud, Hélène Surgère, Fediverse: @filmeundserien
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