Isabelle Adjani – „Ein mörderischer Sommer“ (1983)

4.6
(5)
Ein Film, wie ich danach nie wieder einen anderen gesehen habe. Und das, ob schon seine Krimi-Handlung so konventionell daherkommt, wie jene ungezählter anderer Thriller. Doch das, was Frau Adjani und Regisseur Jean Becker aus der Geschichte des Racheengels herauszuholen in der Lage waren, ist bis heute noch ziemlich unerreicht.



Hier wurde ein Video von Youtube, einer Plattform von Alphabet (Google) eingebunden. Der Inhalt wird nur geladen, wenn sie zuvor einer Übertragung ihrer persönlichen Daten (ua. ihrer IP-Adresse) an die Plattform zustimmen. Klicken Sie auf dieses Cover, um den Inhalt anzuzeigen.

Erfahren Sie mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.

Es ist, ganz unzweifelhaft, ein Film, der ganz um seine Hauptdarstellerin herum entwickelt wurde. Selbst die Biografie der Hauptfigur Eliane ist angelehnt an die algerisch-deutsche Herkunft der Adjani – wobei sie tatsächlich auf einem Roman (1977) von Sébastien Japrisot beruht, der hier auch für das Drehbuch verantwortlich war.

Doch ganz gleich, ob der Autor schon seine Hauptdarstellerin im Kopf hatte, als er die Geschichte schrieb – Adjani hat sie jedenfalls so umgesetzt, dass sie damit ihre Karriere gleichsam neu erfunden hat. Vier Cesars hat der Film gewonnen. Und einen völlig sprachlosen Zuschauer in Deutschland, der 40 Jahre später noch davon überfordert zu sein scheint, zu ihm die richtigen Worte zu finden.

Meine Bewunderung für Adjani habe ich schon in meinem Text zu ihrem nur kurz vorher erschienenen Film „Das Auge“ (1983) von Claude Miller kaum angemessen wiedergeben können. Hier fällt es mir gleich nochmal ungleich schwerer.

Natürlich spielt der Male-Gaze dabei eine ganz elementare Rolle. Denn der in Perfektion inszenierte Körper der Adjani und der von ihr gespielten 19-jährigen Eliane (Adjani war zu dem Zeitpunkt bereits 28 Jahre alt) war der Grund dafür, dass dieser Film schon seit 40 Jahren als Prototyp eines französischen Erotik-Thrillers gilt. Dabei ist das Thema hier aber gar nicht Erotik, sondern elementare Rache.

Von dem 18-Jährigen, der diesen Film damals zum ersten Mal gesehen hat, durften wir wirklich nicht erwarten, dass er notwendigerweise in der Lage gewesen ist, die erotische Wirkung jener Frau und ihre Funktion als ultimative Waffe in einem Film auszudifferenzieren, die gleichsam eines Schrotgewehrs jeden Mann trifft, der in ihre Schusslinie gerät. Doch auch nach mehr als vier Jahrzehnten funktioniert und fasziniert diese einfache Geschichte ihn nicht weniger als in den 80ern.

Denn Sex ist hier Mittel zum Zweck. Eliane benutzt die Mechanismen des patriarchalen Systems, in dem sie diese Mechanismen gegen das System selbst einsetzt. Sie kehrt die Machtverhältnisse um. Und das in einer gewaltsamen Konsequenz, die jene der auslösenden elementaren Gewalt an ihrer Mutter und den Folgen auf das Leben ihrer Familie und ihrer eigenen Existenz zu entsprechen scheint. In der Herleitung und Darstellung dieser Geschichte ist der Film durchaus drastisch – sodass er für empfindsame Menschen tatsächlich nicht zu empfehlen ist!

Dass der Film diese Gewalt aber nicht als Hintergrundrauschen inszeniert, sondern als Quelle der Handlung, ist radikal. Adjani spielt Eliane nicht als Opfer, sondern als Komplizin ihrer eigenen Reinszenierung. Sie ist Täterin, Zeugin und Richterin zugleich. Und der Film zwingt uns, wirklich genau hinzuschauen.

Ganz genau wie der Film, der eigentlich wie eine leichte französische Sommerkomödie beginnt und in einer Tragödie endet, gibt uns auch Adjani alle Facetten ihrer Kunst. Ihre Eliane, die zunächst wie ein – vielleicht etwas einfältiges – Mädchen daherkommt, das jung und schön ist und eigentlich nur eine gute Zeit haben möchte – wobei sie ganz gewiss nicht viel darüber nachzudenken scheint, was sie tut – besitzt tatsächlich eine tiefe und geradezu meisterinnenhaft verborgene, dunkle, komplexe und verletzte Persönlichkeit, die sie nur für Bruchteile von Sekunden als ihre wahre Natur offenbart.

Dieser Wechsel, von der Außenansicht des jungen Mädchens, in die Seele dieser zutiefst verletzten Frau spielt Adjani auf eine Art und Weise, dass es verwirrend und überaus faszinierend ist, ihr dabei zuzusehen. Denn sie verkörpert sie gleichsam parallel, manchmal gleichzeitig in einem einzigen Blick. Unmöglich, diese Augen zu vergessen.

All diese Fragmente zusammenzusetzen ist die Aufgabe der Geschichtenerzähler:innen – denn davon gibt es im Film gleich mehrere – für ihr Publikum. Tatsächlich werden wir durch diesen Kunstgriff in den Sog der Geschichte hineingezogen und je weiter wir fortschreiten und unser Puzzle sich seiner Vervollständigung nähert, so nähert sich die Tragödie ihrer erschütternden Auflösung.

Der Film von Jean Becker ist keiner, den sie je wieder vergessen können. Für Adjani war es einer der erfolgreichsten ihrer langen Karriere. Und für mich ist „Ein mörderischer Sommer“ ein ewiger Beweis der Macht des Kinos. Es braucht gar nicht viel. Einen Regisseur, eine Geschichte und hervorragende Darsteller:innen – das ist schon genug, um das Leben von Menschen für immer zu verändern.

Ich bin dafür nur ein lebender Beweis.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 16.06.2024.


Verwandte Beiträge >>
Inhaltswarnung >>

Der Film enthält explizite Darstellungen von Sexualität, Gewalt und psychischem Ausnahmeverhalten. Der Film thematisiert obsessive Liebe, Verlust, Trauma und patriarchale Gewaltverhältnisse. Rückblenden zeigen sexualisierte Gewalt und Missbrauch. Die emotionale Intensität kann sehr belastend wirken, insbesondere für Menschen mit Erfahrungen sexueller oder familiärer Gewalt. Die Darstellung von Frauen oszilliert zwischen Emanzipation und Projektion.



Thriller, Frankreich, 1983, FSK: ab 16, Regie: Jean Becker, Drehbuch: Sébastien Japrisot, Produktion: Christine Beyout, Musik: Georges Delerue, Kamera: Étienne Becker, Schnitt: Jacques Witta, Mit: Isabelle Adjani, Alain Souchon, Suzanne Flon, Jenny Clève, Maria Machado, Evelyne Didi, Jean Gaven, François Cluzet, Manuel Gélin, Roger Carel, Michel Galabru, Marie-Pierre Casey, Cécile Vassort, Édith Scob, Martin Lamotte, Maïwenn, Fediverse: @filmeundserien, @3sat



Reaktionen:

Wie bewerten Sie diesen Film / diese Serie?

Dieser Film / diese Serie wurde 5x im Durchschnitt mit 4.6 bewertet.

Bisher keine Bewertungen.


  1. Avatar von Us©hi in Aachen
    Us©hi in Aachen

    @mediathekperlen Ja, habe ihn gestern auch nach langer Zeit noch einmal angesehen. @filmeundserien @3sat


    1. Avatar von Mediathekperlen

      Ich schaue mir das ja schon seit Jahrzehnten immer wieder einmal an. Aber hier bin ich @3sat schon fast dankbar, dass sie den Film nicht zu häufig durch die erbarmungslose Wiederholungsmühle drehen. Denn dadurch würde er wohl viel von seiner Wirkung einbüßen. Nur was selten ist, ist kostbar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie können diesen Beitrag auch über das Fediverse (zum Beispiel mit einem Konto auf einem Mastodon-Server) kommentieren.