Jean-Luc Godard – À bout de souffle (1960)

Jean-Luc Godards „Ausser Atem“ (À bout de souffle) ist ein Meilenstein in der Geschichte des Kinos. Dieser Film von 1960 (fünf Jahre vor meiner Geburt), wurde zum Manifest der französischen New-Wave-Bewegung und revolutionierte das Filmemachen für immer. Mit anderen Worten: Mein Leben wäre unvorstellbar, ja sinnlos, ohne diesen Film.

Um „Ausser Atem“ zu verstehen, müssen wir den Film in seinen historischen Kontext einordnen. Die späten 1950er und frühen 1960er Jahre waren eine entscheidende Zeit für das internationale Kino. Frankreich befand sich im Umbruch, und eine Gruppe blutjunger Filmemacher, darunter Godard, François Truffaut und Éric Rohmer, entwickelten sich zur treibenden Kraft der „Neuen Welle“. Diese revolutionäre Bewegung postulierte die Ablehnung traditioneller filmischer Konventionen und forderte absolute künstlerische Freiheit für Filmemacher:innen.

So ist der Stil von Jean-Luc Godard hier von zentraler Bedeutung. Abrupte Übergänge zwischen den Einstellungen, die oft die Kontinuität unterbrechen, erzeugen Spontaneität und spiegeln die Unruhe und Impulsivität der Figuren wider. Handkameras erzeugen einen gleichsam dokumentarischen Charakter. Dieser Stil entstand zum Teil aus der puren Not eines prekären Budgets und wurde zu einem bestimmenden Merkmal der Nouvelle Vague. Weil Godart weder über Geld noch die Ressourcen eines Filmstudios verfügen konnte, blieb nur die Wirklichkeit. Und gerade die Verwendung realer Schauplätze in Paris gibt dem Film seine Authentizität und macht ihn so auch zu einem zeithistorischen Dokument des Paris der frühen Sechziger.

„Ausser Atem“ erzählt die Geschichte von Michel Poiccard (gespielt vom unwiderstehlich jugendlichen Jean-Paul Belmondo), einem jungen Autodieb und Kleinkriminellen, der einen Polizisten tötet und daraufhin flieht. Er sucht Zuflucht in Paris und lernt dort Patricia Franchini (gespielt von Jean Seberg) kennen, eine amerikanische Studentin und angehende Journalistin. Ihre turbulente Beziehung bildet den Kern des Films.

Die Geschichte

Die Geschichte ist verblüffend einfach. Das ganze Drehbuch umfasst nur wenige Seiten und konzentriert sich auf Interaktionen statt auf eine komplexe Handlung. Es beschreibt nur wenige Tage und fängt so die spontane, flüchtige und impulsive Natur von Michel und Patricia ein. Dialoge sind oft bruchstückhaft und voller Subtext, was einerseits ihre Unfähigkeit zu offener Kommunikation, andererseits aber auch ihre unausgesprochene Sehnsucht nach Freiheit widerspiegelt.

Michel Poiccard ist ein Anti-Held schlechthin. Charismatisch und rebellisch, verkörpert er Rastlosigkeit und Ziellosigkeit der Jugend. Er vergöttert amerikanische Gangster (Bogey!), was sich etwa in seiner Vorliebe für kuriose Filzhüte und seinem Auftreten als harter Kerl zeigt. Der Kerl ist eine wandelnde Hommage an Cagney, Bogart, Dean und Brando, gleichzeitig auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Autodiebstahl und eine Schießerei mit einem Cop, machen ihn zu einem Kriminellen, doch sein Charme macht ihn gleichzeitig zu einer hinreißend liebenswerten Figur.

Patricia Franchini dagegen, ist eine komplexe, fast mystische Figur. Als Amerikanerin in Paris verkörpert sie die Verlockungen der amerikanischen Kultur, Freiheit und Selbstbestimmung. Sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Unabhängigkeit und echten Gefühlen für Michel. Ihre androgyne Erscheinung, vor allem aber ihre inneren Konflikte, ihre moralische Ambiguität, machen sie zu einer Ikone des Feminismus und der Frauenbewegung die in den Sechziger Jahren vollends ihre revolutionäre Kraft entfalten sollte.

Polizeiinspektor Vital, der das Paar verfolgt, ist Gegenspieler der Protagonisten. Als Verkörperung der alten Autorität und Ordnung des Nachkriegsfrankreich unter De Gaulle steht er so im scharfem Kontrast zur Aufmüpfigkeit, Unabhängigkeit und dem Streben nach Freiheit von Michel und Patricia. Dieser Konflikt, inszeniert als Katz-und-Maus-Jagd trägt den Film. Eine Erzählung vom Kampf um Freiheit und der Rebellion gegen die verfestigten Normen der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft.

Der Film ist letztlich eine Geschichte der Entfremdung und der Desillusionierung junger Menschen im Nachkriegseuropa, des wachsenden Einfluss der amerikanischen Kultur, insbesondere vom Hollywood-Kino und der amerikanischen Literatur. Die revolutionäre Kraft des Rock’n’Roll sollte sich in den Sechzigern erst später noch entfalten. Bei Godard ist es amerikanischer Jazz der die Handlung treibt und mit den Konventionen bricht.

Einer der Filme, die dem Kino wieder einen Sinn gaben

Godard ist als Regisseur überwältigend selbstbewusst und durchbricht oft die vierte Wand. Seine Figuren sprechen in die Kamera, und er gibt immer wieder Verweise auf andere Filme und kulturelle Ikonen. Diese Selbstreflexivität – ein Markenzeichen der französischen Neuen Welle – hebt die Künstlichkeit des Kinos hervor und will gleichzeitig das Publikum im Saal ansprechen. Seine innovative, oft spontan entwickelte Technik, wie Jump-Cuts und schnellen Handkameras, beeinflussten Filmemacher:innen weltweit. Die Französische Neue Welle, mit „Ausser Atem“ als Schlüsselwerk, hat das traditionelle Filmemachen ein für alle Mal in Frage gestellt.

Zusammenfassend: Ein wirklich revolutionäres Meisterwerk das Publikum und Filmemacher:innen gleichermaßen fesselt. Ein zeitloser Klassiker. Und einer der Filme, die dem Kino einen Sinn gaben. Für mich, einer der besten überhaupt.

„Ausser Atem“ (1960) in der ARD-Mediathek verfügbar bis zum 09.10.2023

(FSK 16 – deshalb erst ab 22:00 Uhr)


Mit: Jean Seberg (Patricia Franchini), Jean-Paul Belmondo (Michel Poiccard), Daniel Boulanger (Inspektor Vital)
Regie: Jean-Luc Godard
Drehbuch: Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Claude Chabrol
Produktion: Georges de Beauregard
Musik: Martial Solal
Kamera: Raoul Coutard
Schnitt: Cécile Decugis, Lila Herman


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