Die „Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ hat diesen Film aus einer anderen Welt, erst „ab 16“ freigegeben. Leider geht aus der Freigabebescheinigung nicht hervor, warum die Altersschranke montiert wurde… Natürlich halten sich ONE und ARD Mediathek daran und wir können ihn erst ab 22:00 Uhr sehen.(*) Das sollten Sie auch!
Die FSK Freigabe liegt hier wahrscheinlich nicht etwa an dem üblichen Grund drastischer Gewaltdarstellung oder etwa sexueller Handlungen. Denn selbst der Vollzug eines Beischlafes in der freien Natur ist hier zurückhaltender und natürlicher inszeniert, als das meiste, was diesbezüglich aus Hollywood zu uns herüberschwappt. Vielleicht ist es der erigierte Penis der weiblich gelesenen Protagonistin während des konsensuellen Liebesaktes, der einfach nicht in das übliche Schema passen will und deshalb unsere Jugend verwirren könnte?
Ich weiß es doch auch nicht. Doch Verwirrung zu stiften ist in der Tat eines der zentralen Motive dieses Fantasy-Crime-Love-Thrillers, der darauf angelegt ist, unsere nicht nur im Kino erlernten Konventionen nachhaltig durcheinander zu bringen.
„Nordische Folklore, versetzt mit zeitgenössischem sozialen Realismus, als universelle Parabel über Identität, Tribalismus, Rassismus und Angst vor den anderen, den Fremden.“ So hat eine Kritik diese Liebesgeschichte beschreiben. Und das kratzt vermutlich nicht einmal an der Oberfläche des wahren Charakters dieses Films von Ali Abbasi (2018) – ich fand ihn einfach überwältigend, als ich ihn vor einigen Jahren zum ersten Mal sehen durfte.
Knallhart und hinreichend realitätsnah ist das der Geschichte hinterlegte Thema des Kampfes der schwedischen Polizei/Zollbehörden gegen internationale Pädophilenringe. Auch die soziale Realität Schwedens wird authentisch und weder mystifiziert noch als Klischee dargestellt. Diese Geschichte könnte so erst gestern oder im Heute passiert sein.
Wallander im Wald
All das hätten wir so vielleicht auch in einem Roman des Henning Mankell finden können. Die Geschichte von Tina (fabelhaft: Eva Melander) und Vore (Eero Milonoff) allerdings, ein Crossover aus Mythologie, Folklore, spiritueller Natur und moderner kultureller, ethnischer und sexueller Identitätspolitik, hätte der alte weiße Mann aus Stockholm sich wohl niemals ausdenken können. Ich habe die meisten seiner Bücher gelesen und geliebt, eben weil sie so realistisch und der Wahrheit verpflichtet waren.
Diesen Film und von John Ajvide Lindqvist, Ali Abbasi und Isabella Eklöf liebe ich eben dafür, dass sie eben all das sprengen und weit darüber hinausgehen, was wir in den letzten 20 Jahren unter dem Etikett „Nordic Noir“ in Literatur, Kino und Fernsehen erlernt haben.
Der Film ist tatsächlich verstörend. Und wahnsinnig modern. Wir müssen ihn nicht lieben. Er bettelt ganz und gar nicht darum. Doch wenn wir uns auf seine Fremdheit einlassen, dann werden wir sicher dafür belohnt.
Nachtrag: Leserin Rosa Meyer hat genauer hingesehen als ich und festgestellt, dass der Film in der Mediathek tatsächlich eine Freigabe ab 12 Jahren hat – und damit auch schon vor 22:00 Uhr zugänglich ist. Ich spekuliere dazu – weil ich es nicht belegen kann – dass der Film dafür um einige Minuten gekürzt wurde. Danke, Rosa, für den Hinweis!
Dieser Beitrag erschien zuerst am 29.09.2024
Fantasy-Thriller, Schweden, 2018, FSK: ab 16, Regie: Ali Abbasi, Drehbuch: John Ajvide Lindqvist, Ali Abbasi, Isabella Eklöf, Produktion: Nina Bisgaard, Peter Gustafsson, Petra Jönsson, Musik: Christoffer Berg, Martin Dirkov, Kamera: Nadim Carlsen, Schnitt: Olivia Neergaard-Holm, Anders Skov, Mit: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Sten Ljunggren, Ann Petrén, Viktor Åkerblom, Rakel Wärmländer, Matti Boustedt
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