Dieser Film hat etwas von einem Mysterium. In Deutschland finden sie bis heute keine ernsthafte Filmkritik, und das, obwohl der Film schon seit 2019 auf diversen Filmfestivals lief. Erst vor zwei Wochen erlebte er seine TV-Erstausstrahlung und ist nun in der Mediathek nur hinter einer FSK 16 Schranke zugänglich.
Erklären Sie mir, wenn Sie können, warum ein Film wie das „Baumbacher Syndrome“, mit dem österreichischen Großschauspieler Tobias Moretti, über 5 Jahre, mal abgesehen von den Festivals und Netflix, quasi außerhalb der Öffentlichkeit existiert. Ich kann es, selbst nach einer mehrstündigen Onlinerecherche nicht begründen. Nichtmal einen Eintrag in der Wikipedia gibt es dazu.
Seine deutsche Free-TV-Premiere erlebte dieser Film erst vor ein paar Tagen. Am 09. November 2024, um 22:00 Uhr an einem Samstagabend, auf dem etwas ungeliebten ARD-Recyclingsender „One“. Immerhin noch vor Mitternacht. Darüber mag ich mich kaum beschweren wollen. Verdient hätte der Film von Gregory Kirchhoff jedenfalls viel mehr.
Ich habe den jungen Mann damals für sein Debüt „Ostfriesisch für Anfänger“ (2016) noch zum Teufel in der Ostfriesenhölle gewünscht. Doch das lag ganz und gar nicht an den filmischen Qualitäten seiner Arbeit, sondern an der falschen Entscheidung des NDR, die Hauptrolle zu besetzen. Aber Schwamm drüber, denn wir haben im deutschen Film auch schon weit schlimmeres gesehen.
„Baumbacher“ ist nun, anders als seine Auftragsarbeiten für das Fernsehen zuvor und zuletzt, eine durch und durch selbstverantwortete Produktion Kirchhoffs, für die er als Autor, Regisseur und Produzent verantwortlich gezeichnet hat. Und dafür verdient er meinen vollen Respekt!
Tatsächlich ist die Prämisse seines Buchs eine, auf gleich mehreren Ebenen, interessante Frage: „Wie geht ein Mensch (hier ein Talk-Show-Moderator), damit um, wenn ihm das wichtigste Werkzeug zur Ausübung seines Berufes und damit die Grundlage seines Erfolges abhandenkommt, über das dieser Mensch verfügt. Nämlich: Seine Stimme.“
Tobias Moretti, ein Schauspieler, der es vermag, seine Stimme ganz fein und differenziert auf seine diversesten Rollen zu modulieren, war ein Hauptgewinn für diesen Film. Die Tatsache, dass der erfolgsverwöhnte Österreicher sich aber für eine Rolle hergegeben hat, in der eben diese Stimme fast den gesamten Film lang durch einen Sound-Equalizer verfremdet wird, und damit nicht mehr mit unserer, in vielen Jahren gewachsenen Erwartungshaltung an eben genau diesen Schauspieler übereinstimmt, zeugt von dessen Mut.
Moretti und sein Regisseur machen aus dieser ganz kleinen Geschichte einen Film, der weit mehr ist, als Unterhaltung, nämlich eine große Meditation über die Kunst, Identität, das Leben und Beziehungen, die wirklich wichtig sind.
In der ARD-Mediathek steht der Film unter der Rubrik „Comedy“ – und damit ist fast sicher, dass seine Zuschauer:innen enttäuscht sein werden. Denn gelacht habe ich nur zwei Mal. Und ja, das war wirklich komisch.
Doch ist es ein unendlich langsamer, fast philosophischer Film. Manchmal ist er geradezu meditativ und fast esoterisch. Begründet in seiner Erzählweise und vor allem auch der Inszenierung der opulenten Naturkulisse Mallorcas – wobei wir tatsächlich nicht wissen, dass es sich um die Insel handelt, weil die Geschichte im Film an keinen Ort gebunden ist.
Fünfzehn Darsteller:innen stehen auf der kurzen Besetzungsliste, wirklich wichtig sind neben Tobias Moretti als „Baumbacher“ eigentlich nur vier. Da ist sein Freund und Agent, gespielt vom Schauspiel-Veteranen Richard Sammel, eine junge TV-Journalistin, gespielt von der Norwegerin Ingvild Deila, die Baumbacher als Repräsentantin seines Publikums die Fragen stellt, die dieser sich selbst zu beantworten versucht. Lenz Moretti, der Sohn, der hier in einer Meta-Rolle, auch den Sohn des Protagonisten spielt. Und, vor allem, die ganz wunderbare Türkin Elit İşcan, die hier als Wandersfrau „Fida“ (:die Verlässliche) quasi aus dem Nichts des Zufalls in das Leben Baumbachers tritt – und ihn auf seinem Weg zur „Erlösung“ begleitet.
Diese sehr internationalen Darsteller:innen wurden nicht synchronisiert und können als Künstler:innen so mit ihrer eigenen Stimme und ihrer ganzen artistischen Individualität agieren. Der Preis dafür, nämlich Untertitel, machen den Film deshalb noch auf der Meta-Ebene zum realen Kunstwerk, statt einem artifiziellen, weil kulturell manipulierten, Stück aus der Filmfabrik.
Kein Film für ein Massenpublikum, ganz sicher. Keine Comedy! Aber eine schöne intellektuelle Übung, deren Zeug:innen zu sein, oder sie gar mitzugehen, eine echte und deshalb seltene Bereicherung für seine Zuschauer:innen sein kann.
Eine Perle. Eben das!
Drama, Deutschland, 2019, Deutsch / Englisch mit Untertiteln, FSK: ab 16?, Regie & Drehbuch: Gregory Kirchhoff, Produktion: Matthias Greving, Sophie Florentine Schüttfort, Gregory Kirchhoff, Kamera: Dino von Wintersdorff, Schnitt: Andree Fischer, Musik: Lucas Zavala, Mit: Tobias Moretti, Elit Iscan, Lenz Moretti, Ingvild Deila, Richard Sammel, Karoline Schuch, László Branko Breiding, Kaweh Modiri, Julia Wulff, Jens Riewa, Aline von Drateln, Wayne Carpendale, Alicia Anna Nemetz, Gabriela Maucher, Roland Maucher
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