Tilda Swinton – „We Need to Talk About Kevin“ (2011)

Triggerwarnung! Kein Film, den Sie sehen wollen. Vermutlich auch kein Film, den Sie sehen sollten. Keine lineare Tragödie, sondern eine zersplitterte Erinnerung. Was hier erzählt wird, ist weniger eine Geschichte über Schuld, sondern über das Ausgeliefertsein, über emotionale Verwüstung und über das Muttersein als ungesichertes Terrain. Über feine, giftige Risse, die in zwischenmenschlichen Beziehungen zu Abgründen werden.



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Lynne Ramsays Film „We Need to Talk About Kevin“ (2011) erklärt nicht, erlöst nicht, beruhigt nicht – und verstört. Die Geschichte einer Mutter, deren Sohn ein Massaker begeht, als psychologische Studie, als Chronologie totaler emotionaler Verwüstung. Wenn Sie in der Lebensphase sind, darüber nachzudenken, ob Sie Kinder haben wollen, schauen Sie den Film nicht. Weil Sie danach vermutlich keine mehr wollen.

Ich habe selten einen Film gesehen, der so schmerzhaft genau beobachtet, wie Isolation aussieht, wie sie sich in den Körper schreibt, in Gesten, in Schweigen. Ramsay verzichtet konsequent auf Erklärungen. Kein Psychogramm eines Killers, keine Analyse, kein klassischer Spannungsaufbau, kein Horror. Stattdessen gleitet die Kamera durch einen Zustand permanenter Unsicherheit – unaufgeregt, erbarmungslos.

Das Mutter-Sohn-Drama „We Need to Talk About Kevin“ ist über Strecken inszeniert wie ein Horrorfilm: In der Wahrnehmung der Mutter wirkt der Junge wie die Satansbrut im Okkult-Klassiker „Das Omen“. Wie kann man etwas gebären, das einem offensichtlich nur Böses will? Da müssen doch teuflische Kräfte im Spiel sein. Aber das Fremde, es wird von Regisseurin Lynne Ramsay gnadenlos als das Eigene inszeniert: Denn je älter Kevin wird und je unheimlicher ihn die Mutter findet, desto mehr sieht er aus wie sie. Mit 15 scheint er ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein perfider Gag der Natur.

Christian Buß, Spiegel-Online, 13.08.2012

Tilda Swinton spielt Eva, die Mutter des titelgebenden Kevin, mit einer Zurückhaltung, die mir den Atem nimmt. In jeder Szene liegt das Gewicht des Ungesagten, das Echo von Schuldzuweisungen, die nie ausgesprochen werden müssen. Swinton schafft es, gleichzeitig stark und vollkommen zerstört zu wirken, kontrolliert am Rand des Zusammenbruchs. Ihre Augen sind müde von der Welt, von der eigenen Geschichte, vom Versuch, weiterzuleben, obwohl alles dafür spricht, dass es unmöglich ist.

Was Ramsay mit Swintons Figur gelingt, ist nicht weniger als die totale Dekonstruktion einer Mutterrolle. Hier ist sie keine heilige Instanz, keine tröstende Kraft, sondern eine Frau, die ihr Kind nicht versteht. Die es vielleicht nie lieben konnte – oder von ihm nie geliebt wurde. Diese gegenseitige Ablehnung steht unausgesprochen im Raum, spiegelt sich in Kleinigkeiten, in Körpersprache, in Blicken, in der klugen Montagetechnik, die immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart springt, zwischen dem Versuch des Verstehens und dem bleibenden Unverständnis.

Ezra Miller als jugendlicher Kevin ist ein Vakuum. Eine Provokation. Er spielt das Böse nicht aus, sondern lässt es stehen – und ist gerade deshalb so beängstigend. Aber Ramsay interessiert sich nicht für das Böse als Spektakel. Sie stellt keine Diagnosen, keine moralischen Urteile. Stattdessen zeigt sie eine Realität, in der Gewalt nicht plötzlich einfach da ist, sondern sich langsam aufbaut und eskaliert, im Alltag, im Unausgesprochenen, im Verdrängten. Der Film macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass Kevins Gewalt nicht „verstehbar“ ist – und dass auch Eva sie nicht wirklich erklären kann.

Die Bildsprache von Seamus McGarvey ist zentral für die emotionale Wirkung. Farben sind hier kein Hintergrund, sie sind Symbolträger: das wiederkehrende, aggressive Rot, das immer wieder Blut, Wut, Schuld bedeuten kann – oder alles zugleich. Die Kamera bleibt distanziert, beobachtend, als traue sie der Wirklichkeit nicht ganz. Und das ist genau richtig: „We Need to Talk About Kevin“ ist ein Film über eine Realität, die sich jeder einfachen Lesbarkeit entzieht.

Ich habe mich immer wieder gefragt, ob der Film „fair“ ist. Ob er Müttern zu viel Verantwortung aufbürdet. Ob er psychologische Klischees bedient. Aber das ist vielleicht die falsche Frage. Ramsay will keine Antworten liefern. Sie will zeigen, was geschieht, wenn Sprache versagt. Wenn Familie zur Fremde wird. Wenn das eigene Kind zum Spiegel des eigenen Scheiterns wird – oder wenigstens dieses Gefühl nie ganz verschwindet.

Der Film verweigert kathartische Momente. Kein Erlösungsdialog, keine rückblickende Aufarbeitung, keine Schuldzuweisung, die sich in Sicherheit verwandelt. Es bleibt das Echo einer totalen Katastrophe, und eine Mutter, die übrig bleibt. Die versucht, eine Antwort auf eine Frage zu finden, für die es keine gibt: Warum?

Was Ramsay gelingt, ist nicht nur ein radikal entschleunigter Thriller oder ein Porträt emotionaler Isolation, sondern ein Statement: Dass wir vielleicht öfter schweigen, wo wir reden sollten – und dass das Reden manchmal tatsächlich zu spät kommt. „We Need to Talk About Kevin“ ist kein Film über Täter:innenpsychologie, sondern über die Unfähigkeit, in einem System zu leben, das Fürsorge immer noch romantisiert und Verantwortlichkeit individualisiert.

Es ist kein einfacher Film. Aber vermutlich ein notwendiger. Gerade, weil er sich nicht in Narrative pressen lässt. Ramsay macht uns keine Angebote zur Identifikation. Stattdessen zeigt sie, wie komplex, wie düster und wie ambivalent Elternschaft sein kann.

Gewalt ist fast immer ein emotionales, ein soziales und ein systemisches Problem.

Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 29.06.2025.


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Inhaltswarnung: Der Film enthält drastische Darstellungen erheblicher psychischer und physischer Gewalt gegen Kinder und Erwachsene, häuslicher Isolation und schulischer Gewalt bis hin zu einem Amoklauf. Für Menschen mit Erfahrungen in diesen Bereichen kann der Film sehr belastend sein. Bitte schauen Sie sich den Film nicht allein an. Reden über das gemeinsam gesehene und erlebte ist wichtig und hilft!



Psycho-Drama, Deutsch/Englisch, Großbritannien, USA, 2011, FSK: 16, Regie: Lynne Ramsay, Drehbuch: Lynne Ramsay, Rory Stewart Kinnear (nach dem Roman von Lionel Shriver), Produktion: Jennifer Fox, Luc Roeg, Bob Salerno, Musik: Jonny Greenwood, Kamera: Seamus McGarvey, Schnitt: Joe Bini, Mit: Tilda Swinton, Ezra Miller, John C. Reilly, Jasper Newell, Ashley Gerasimovich, Alex Manette, Fediverse: @filmeundserien@a.gup.pe



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