Ein Film, der heute wirkt wie das verblasste Echo einer Zeit, in der Spiritualität zur Ware wurde und kulturelle Aneignung noch als „Exotik“ verkauft werden konnte. Drei Jahrzehnte später ist er vor allem ein Monument westlicher Projektionen, das mehr über den westlichen Hunger nach Sinnsuche verrät als über den tibetischen Buddhismus selbst.
Schon 1993 lag der Film voll im Trend einer Kultur, die sich gern in fernöstliche Mystik verliebte, solange sie nur in hübschen Bildern verpackt war. Bernardo Bertolucci war ein Meister der großen Leinwandvisionen. Der Italiener wollte den Mythos von Siddhartha Gautama und die Suche eines westlichen Kindes nach spiritueller Wahrheit miteinander verknüpfen. Die Idee, den amerikanischen Jungen aus Seattle zur möglichen Reinkarnation eines Lama zu machen, sollte Brücken bauen, Kulturen versöhnen, ein spirituelles Erwachen jenseits aller Grenzen zeigen.
Doch dieser Brückenbau geriet zur einseitigen Aneignung. „Little Buddha“ (1993) reiht sich ein in die lange Tradition westlicher Filme, die den „edlen Osten“ als Projektionsfläche für die eigene Sinnkrise benutzen – die Ästhetik des Exotischen, die sich an fremden Symbolen labt, ohne sie wirklich zu verstehen. Für ein mich ist dieser Film ein Lehrstück: Er zeigt, wie Spiritualität in kapitalistischen (Film-)Verwertungslogiken zu einer Ware wird.
Bertoluccis Film lebt von der grandiosen Bilderpracht Vittorio Storaros. Atemberaubende Klöster, majestätische Himalaya-Landschaften, goldene Statuen – alles strahlt eine visuelle Ehrfurcht aus, die fast überhöht wirkt. Storaro, der schon für Bertoluccis „Der letzte Kaiser“ (1987) monumentale Bilder erschaffen hat, komponierte jedes Bild wie ein Gemälde. Warmes, goldenes Licht überzieht die tibetischen Szenen, während das Leben des kleinen Jesse in Seattle eher kühl und nüchtern bleibt. Dieses visuelle Spiel – das „magische“ Tibet versus das „banale“ Amerika – verstärkt die mythische Überhöhung des Ostens und bleibt dabei immer von westlichen Blicken gelenkt.
Die Musik von Ryuichi Sakamoto unterstreicht das Märchen: Sanfte Streicher und fernöstlich angehauchte Melodien mischen sich mit elegischen Klangflächen, die eine Atmosphäre von Erhabenheit schaffen sollen. Doch auch hier wird spürbar: Das „östliche“ Klangkolorit ist ein Film-Effekt, die tibetische Klangwelt wird für westliche Ohren glattgebügelt. Sakamotos Kompositionen sind zweifellos erhaben, doch er stellt sie in den Dienst eines Narrativs, das Spiritualität als akustisches Wohlfühlprogramm instrumentalisiert.
Keanu Reeves, der damals noch lange nicht den Kultstatus von heute besaß, wirkt fast geisterhaft in seiner Rolle als Siddhartha Gautama. Seine stoische Ruhe, sein fast regloses Gesicht – das alles verleiht ihm zwar eine gewisse Aura, bleibt aber letztlich nur Projektion. Reeves wurde besetzt, weil er die Erwartungen des westlichen Publikums an einen „spirituellen Helden“ perfekt bediente: schön, sanft, geheimnisvoll. Chris Isaak und Bridget Fonda wiederum liefern solide, aber blasse Performances – Figuren, die eher Platzhalter:innen westlicher Ratlosigkeit sind als Charaktere mit Tiefe.
Schon 1993 kritisierten viele im Westen die kitschige Naivität der Jesse-Geschichte, die den tibetischen Buddhismus zu einer Art spirituellem Abenteuerurlaub für Weiße degradiert. Reeves als Siddhartha Gautama war ein billiger Casting-Coup, der jede Tiefe der Geschichte verriet. Er verkörperte weniger den suchenden Prinzen als vielmehr den stylischen Poster-Boy für „New Age“-Fantasien.
Darin liegt ein strukturelles Muster: Der Film nimmt die Philosophie einer unterdrückten Kultur, eines von China besetzten Landes und macht daraus ein dekoratives Märchen. Dass Bertolucci sich dabei nicht mit der realen Situation Tibets auseinandersetzt – die politische Unterdrückung, die Enteignung kultureller Identität –, ist kein Zufall, sondern Kalkül. Der Buddhismus wird entpolitisiert, auf Esoterik und Seelenfrieden reduziert. Ein spiritueller Kolonialismus, der sich in den 90ern in esoterischen Buchläden noch sehr gut verkaufen ließ.
Dabei waren die 1990er doch schon eine Zeit, in der sich Exil-Tibeter:innen zunehmend Gehör verschafften. Die Verfolgung von Mönchen und Nonnen, das systematische „Sinisieren“ tibetischer Kultur – all das haben „wir“ im Westen zwar wahrgenommen, in der Popkultur aber selten konsequent verarbeitet.
Heute sind die Themen aktueller denn je: Mit Xi Jinpings harter Linie hat sich die Unterdrückung verschärft. Tibet wurde kulturell und religiös gleichgeschaltet, während „patriotische Erziehung“ selbst in Klöstern Einzug hält. Der 11. Panchen Lama, ein von Peking installierter Gegenkandidat zum von Tibetern anerkannten Panchen Lama, steht weit mehr als nur symbolisch für die chinesische Einflussnahme auf die Reinkarnationslinien tibetischer Lamas.
Dass der Film in China nie gezeigt wurde, liegt auch an seiner politischen Sprengkraft. Reinkarnation tibetischer Lamas ist für Peking ein rotes Tuch, weil es die Legitimität des Dalai Lama und seiner Exilregierung stützt. Für China ist das Thema „Reinkarnation“ nicht spirituell, sondern politisch: Wer das Recht hat, den nächsten Dalai Lama oder Panchen Lama zu bestimmen, hat die Macht über die tibetische Identität. Bertoluccis Märchenfilm wurde daher nach Kräften ignoriert.
Heute ist „Little Buddha“ ein Mahnmal für den Eurozentrismus des globalen Kinos. Er zeigt, wie leicht es dem Westen gefallen ist, sich das Fremde gefügig zu machen und in hübsche Narrative zu pressen. Doch darin liegt auch eine Chance: heute können wir den Film nicht als spirituelle Offenbarung sehen, sondern als Spiegel eines Systems, das alles – selbst den Buddhismus – in Kapital verwandelt. Zugleich macht er deutlich, dass die Unterdrückung tibetischer Identität kein fernes Problem ist. Die Versuche, die Reinkarnation tibetischer Führer zu kontrollieren, sind Teil des chinesischen Projekts, das auch für westliche Zuschauer:innen nicht ignorierbar ist.
„Little Buddha“ würde heute so sicher nicht mehr gedreht werden können – nicht nur, weil Streaming-Algorithmen keine Geduld für stille Bilder und langsame Geschichten haben, sondern weil das Publikum es inzwischen bemerkt, wenn der Westen fremde Mythen als eigene Projektionsfläche benutzt. Der Film bleibt ein Relikt und eine Mahnung: Spiritualität und kulturelle Aneignung sind keine neutralen Spielwiesen. Sie sind Schauplätze von Macht, von Projektion – und von Widerstand.
In einer Welt, in der Tibet unterdrückt wird, kann ein Blick auf einen Film wie „Little Buddha“ trotzdem mehr sein als Nostalgie – eine Erinnerung, dass jede Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ auch im Kino eine Frage der globalen Gerechtigkeit ist.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht am 08.06.2025.
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„Chinas Griff nach Tibet“
– Von Gesbeen Mohammad – WDR Die Story – ARD-Mediathek bis 13.04.2026.
China kontrolliert Tibet mit zunehmender Härte. Das geistliche Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, der Dalai Lama, musste 1959 fliehen. Seitdem wird er als Separatist gesehen, wie seine Anhängerschaft. Jetzt drohen die Jahrhunderte alte Kultur und Religion Tibets ausgelöscht zu werden. Tibet, das etwa ein Viertel des heutigen Chinas ausmacht, gehört zu den am strengsten überwachten Regionen der Welt. Freie Berichterstattung über die Situation vor Ort ist nicht möglich, Kritik an den Chinesen oder auch öffentlichen Bewunderung für den Dalai Lama undenkbar – nur wenige Tibeter:innen können das Land verlassen.
Spielfilm, USA, Großbritannien, 1993, FSK: ab 6, Regie: Bernardo Bertolucci, Drehbuch: Bernardo Bertolucci, Rudy Wurlitzer, Produktion: Jeremy Thomas, Musik: Ryūichi Sakamoto, Kamera: Vittorio Storaro, Schnitt: Pietro Scalia, Mit: Keanu Reeves, Chris Isaak, Bridget Fonda, Alex Wiesendanger, Ying Ruocheng, Norbu Sogyal Rinpoche, Raju Lal, Fediverse: @filmeundserien
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